Der Zweifel an Fakten und die Krise der Volkswirtschaftslehre – BEIGEWUM

Der Zweifel an Fakten und die Krise der Volkswirtschaftslehre

am 22. Februar 2017 um 13:59h

Die­ser Bei­trag zu dem von Till van Tre­eck und Jani­na Urban her­aus­ge­ge­be­nen Buch „Wirt­schaft neu den­ken – Blin­de Fle­cken der Lehr­buchöko­no­mie“ wur­de zuerst auf dem Blog Arbeit & Wirt­schaft veröffentlicht. 

Ob Lohn­hö­he, Stel­lung von Gewerk­schaf­ten, Frei­han­dels­ab­kom­men oder die Inte­gra­ti­on von Geflüch­te­ten – Öko­nom­In­nen haben auf all die­se Fra­gen Ant­wor­ten, wie sich Poli­tik und Gesell­schaft dazu opti­ma­ler­wei­se ver­hal­ten könn­ten. Das Ver­trau­en in die Wirt­schafts­wis­sen­schaf­ten ist aller­dings spä­tes­tens mit der Finanz- und Wirt­schafts­kri­se ab 2008 gründ­lich erschüt­tert wor­den. Denn der Groß­teil der Öko­nom­In­nen hat­te nicht etwa die tiefs­te Kri­se seit der Gro­ßen Depres­si­on von 1929 vor­aus­ge­sagt, son­dern Jah­re der Sta­bi­li­tät und des Wachs­tums. Die „Kri­se der Volks­wirt­schafts­leh­re (VWL)“ ist damit zum Poli­ti­kum gewor­den und fällt aktu­ell mit der Ero­si­on des Ver­trau­ens in „all­ge­mein aner­kann­te Wahr­hei­ten“, aber auch fak­ten­ba­sier­te Ana­ly­sen zusammen.

Ein Ort, an dem eini­gen Stu­die­ren­den und Pro­fes­so­rIn­nen zufol­ge viel zu lan­ge „all­ge­mein aner­kann­te Wahr­hei­ten“ gelehrt wor­den sind, ist die uni­ver­si­tä­re Volks­wirt­schafts­leh­re. Ganz beson­ders ste­chen dabei Stan­dard­lehr­bü­cher der Dis­zi­plin ins Auge, die welt­weit die Inhal­te von Lehr­ver­an­stal­tun­gen und Prü­fun­gen bestim­men. Sie bil­den aller­dings nicht etwa plu­ra­lis­ti­sche Per­spek­ti­ven und den aktu­el­len Stand der Wis­sen­schaft ab, son­dern schei­nen ihrer mil­lio­nen­fa­chen Lese­rIn­nen­schaft zu ein­fa­che Faust­re­geln an die Hand geben zu wollen.

So schreibt der bekann­te Öko­no­mie-Nobel­preis­trä­ger und Lehr­buch­au­tor Paul A. Samu­el­son drei Jah­re nach Aus­bruch der Wirt­schafts- und Finanz­kri­se in der 19. Auf­la­ge (!) sei­nes Buches: „Wir haben daher beschlos­sen, uns auf die Kern­the­sen der Volks­wirt­schafts­leh­re zu kon­zen­trie­ren – auf jene dau­er­haf­ten Wahr­hei­ten, die im neu­en Jahr­hun­dert die­sel­be Bedeu­tung haben wie im alten.“ N. Gre­go­ry Man­kiw, des­sen Bücher nach Samu­el­sons welt­weit die Ver­kaufs­lis­te anfüh­ren, weist Stu­die­ren­de zu Anfang sei­nes Werks dar­auf­hin, dass man Kon­zep­te ken­nen­ler­ne, die zwar dem gesun­den Men­schen­ver­stand wider­sprä­chen, man sich davon aber nicht irri­tie­ren las­sen solle.

Die Überlegenheit der ÖkonomInnen?

Dass die Ein­schät­zung der bei­den US-ame­ri­ka­ni­schen Öko­no­men kei­ne Beson­der­heit dar­stellt, son­dern viel­mehr als Sinn­bild für das Selbst­ver­ständ­nis der Dis­zi­plin ange­se­hen wer­den kann, beleuch­tet unser neu­es Buch, in der 20 Nicht-Main­stream-Öko­nom­In­nen VWL-Stan­dard­lehr­wer­ke rezen­siert haben. Ins­ge­samt zeigt sich dar­in eine Hart­nä­ckig­keit der Lehr­sät­ze, die sich gegen­über weit­rei­chen­der Kri­tik mit der „Über­le­gen­heit der Öko­nom­In­nen“ immu­ni­siert: So stellt der viel beach­te­te Auf­satz „Supe­rio­ri­ty of Eco­no­mists“ von Mari­on Four­ca­de, Eti­en­ne Olli­on und Yann Algan her­aus, dass sich US-ame­ri­ka­ni­sche Öko­nom­In­nen im Ver­gleich zu ande­ren Sozi­al­wis­sen­schaft­le­rIn­nen durch ein erhöh­tes Selbst­be­wusst­sein aus­zeich­nen, durch eine star­ke dis­zi­pli­nä­re Abgren­zung, stark hier­ar­chisch gepräg­te Struk­tu­ren im Wis­sen­schafts­sys­tem, einen hohen Män­ner­an­teil, hohe indi­vi­du­el­le Ein­kom­men und pri­vi­le­gier­te Kon­tak­te in die Poli­tik und in die Finanz­bran­che. Sie sind über­zeugt, dass ihre Dis­zi­plin die wis­sen­schaft­lichs­te unter den Sozi­al­wis­sen­schaf­ten ist und sehen hier­in zugleich ihren gestei­ger­ten poli­ti­schen Gestal­tungs­an­spruch legi­ti­miert. Zudem bedie­nen sie sich häu­fig eines „öko­no­mi­schem Impe­ria­lis­mus“, der das Den­ken in Märk­ten und Effi­zi­enz auf alle Lebens­be­rei­che, von Gesund­heit über Fami­lie, Umwelt bis zur Bil­dung anwendet.

Die­se Ana­ly­se lässt sich ohne Zwei­fel auch auf Euro­pa über­tra­gen, schaut man sich die aktu­el­len öffent­li­chen Debat­ten zu den zen­tra­len gesell­schafts­po­li­ti­schen The­men an: Ob Frei­han­dels­ab­kom­men oder Bre­x­it, wirt­schafts­po­li­tisch bera­ten­de Insti­tu­te und Gre­mi­en sowie Poli­ti­ke­rIn­nen selbst mah­nen „man­geln­den öko­no­mi­schen Sach­ver­stand“ an. Häu­fig bezie­hen sie sich, im Sin­ne der neo­klas­si­schen Volks­wirt­schafts­leh­re, auf eine Kos­ten-Nut­zen-Ana­ly­se der jewei­li­gen Poli­tik­maß­nah­me und stel­len dabei bspw. grob fest, dass ‚wir durch Frei­han­del ins­ge­samt gewin­nen ‘. Wird die­ser Ana­ly­se nicht zuge­stimmt, kri­ti­sie­ren Vie­le eine man­geln­de Aner­ken­nung der „Fak­ten“. Aller­dings gibt es sowohl einen Unter­schied zwi­schen „öko­no­mi­schem Sach­ver­stand“ bzw. „all­ge­mein aner­kann­ten Wahr­hei­ten“ und Fak­ten, als auch Alter­na­ti­ven zur Kos­ten-Nut­zen Analyse.

Allgemein anerkannte Wahrheiten, empirische Analysen und der Nutzenbegriff in der Volkswirtschaftslehre

Mit zwei Bei­spie­len aus dem zuvor genann­ten Sam­mel­band lässt sich der Unter­schied zwi­schen „öko­no­mi­schem Sach­ver­stand“ auf der einen und „Fak­ten“ auf der ande­ren Sei­te erläu­tern. Im neo­klas­si­schen Stan­dard­mo­dell zum Arbeits­markt, das in allen VWL-Grund­kur­sen behan­delt wird, führt die Ein­füh­rung eines Min­dest­lohns zu einem Beschäf­ti­gungs­rück­gang. Die (not­wen­di­ge) Ver­än­de­rung der zugrun­de lie­gen­den Annah­men trägt schon längst zu einer leb­haf­ten aka­de­mi­schen und öffent­li­chen Debat­te um den Min­dest­lohn bei. Im Gegen­satz dazu, zeigt Camil­le Loge­ay im Sam­mel­band, wie der Lehr­buch­au­tor eines inter­na­tio­na­len Stan­dard­werks sei­ne Spra­che gezielt ein­setzt, um Ergeb­nis­se u.a. empi­ri­scher Stu­di­en infra­ge zu stel­len. Der Lehr­buch­au­tor wer­tet Stu­di­en, die einen neu­tra­len oder leicht posi­ti­ven Beschäf­ti­gungs­ef­fekt bei der Ein­füh­rung eines Min­dest­loh­nes fin­den, gegen­über denen, die einen nega­ti­ven Effekt her­aus­stel­len, unbe­grün­det ab.

Ein wei­te­res Bei­spiel ist die Theo­rie des kom­pa­ra­ti­ven Kos­ten­vor­teils von David Ricar­do aus dem Jahr 1817, wel­che die Vor­teil­haf­tig­keit von inter­na­tio­na­ler Arbeits­tei­lung und Han­del her­aus­stellt. Auch hier gibt es seit 200 Jah­ren theo­re­ti­sche Erwei­te­run­gen, empi­ri­sche Über­prü­fun­gen sowie weit­ge­hen­de Ein­schrän­kun­gen der Grund­aus­sa­ge der Theo­rie. Achim Tru­ger zeigt in sei­nem Bei­trag, wie die Lehr­buch­au­toren Samu­el­son, Man­kiw und Krug­man Ricar­dos Theo­rie eisern ver­tei­di­gen. Weder die Exis­tenz von Kapi­tal­mo­bi­li­tät, die Ricar­do damals nicht beach­te­te, noch mög­li­che Unter­be­schäf­ti­gung oder wirt­schaft­li­che Pfad­ab­hän­gig­kei­ten, die ande­re Wis­sen­schaft­le­rIn­nen für lan­des­spe­zi­fi­sche Ana­ly­sen und Poli­ti­ken plä­die­ren lässt, rüt­telt an ihrer Lehrbuchdarstellung.

Zwei­fel an Fak­ten, die in der letz­ten Zeit laut gewor­den sind, mögen des­halb auch mit der Ver­men­gung von „dau­er­haf­ten Wahr­hei­ten“ und empi­ri­schen Ana­ly­sen durch die dis­kurs­mäch­ti­ge Volks­wirt­schafts­leh­re zu tun haben. Außer­dem schei­nen sich immer mehr Bür­ge­rIn­nen gegen­über einem öko­no­mi­schen Sach­ver­stand abzu­gren­zen, der auf eine abs­trak­te Wohl­fahrt ver­weist. Was aus demo­kra­tie­theo­re­ti­scher Sicht als bedenk­lich erach­tet wer­den kann, weist zumin­dest dar­auf­hin, dass in der Volks­wirt­schafts­leh­re in den letz­ten Jahr­zehn­ten zu wenig Dis­kus­si­on über die Ver­tei­lung der Wohl­stands­ge­win­ne der Glo­ba­li­sie­rung statt­ge­fun­den hat. Zudem wird deut­lich, dass sich die Lebens­be­din­gun­gen der Bevöl­ke­rung nicht allein aus der Nut­zen­per­spek­ti­ve beleuch­ten las­sen. Grob gesagt, kom­pen­siert der Nut­zen, der zum Bei­spiel aus dem Kon­sum güns­ti­ge­rer Pro­duk­te ent­steht, für Vie­le nicht den Weg­fall des eige­nen Arbeits­plat­zes, die welt­wei­te Umwelt­ver­schmut­zung, Lohn­dum­ping und krie­ge­ri­sche Aus­ein­an­der­set­zun­gen ein­mal ganz abgesehen.

Was sind die Alternativen?

Die AutorIn­nen des Sam­mel­ban­des füh­ren in ihren Bei­trä­gen an, in wel­che Rich­tung Neu­es öko­no­mi­sches Den­ken gehen kann. Zum einen müss­ten die kri­ti­schen Grund­an­nah­men der neo­klas­si­schen Stan­dard­mo­del­le trans­pa­ren­ter dar­ge­stellt wer­den und die bis­her als Son­der­fäl­le auf­ge­führ­ten Wei­ter­ent­wick­lun­gen (Spiel­theo­rie, Mecha­nis­mus-Design, Mono­pol­theo­rien, Ver­hal­tens­öko­no­mik etc.) ins Zen­trum der Bücher rücken. Zum ande­ren soll­ten empi­ri­sche Ana­ly­sen erns­ter genom­men wer­den und ande­re Theo­rien aus­ge­führt wer­den, da eine Sozi­al­wis­sen­schaft wie die Öko­no­mik mit unter­schied­li­chen Vor­an­nah­men arbei­ten muss und die meis­ten der neo­klas­si­schen Model­le nicht geeig­net für die Beschrei­bung einer finanz­ge­trie­be­nen, ungleich­ge­wich­ti­gen Wirt­schaft sind.

Wel­che ande­ren Theo­rien zu einer plu­ra­len Öko­no­mik dazu­ge­hö­ren und wel­che Vor­an­nah­men dahin­ter­ste­hen, beleuch­tet zum Bei­spiel die im letz­ten Dezem­ber vom Netz­werk Plu­ra­le Öko­no­mik gestar­te­te Online Lern­platt­form Explo­ring Eco­no­mics. Neben Lehr­bü­chern, die Öko­no­mie aus unter­schied­li­chen Para­dig­men beleuch­ten (Jäger/​Springler oder van Stave­ren), ver­sucht aktu­ell der New School Pro­fes­sor Anwar Shaikh empi­risch basier­te Erklä­run­gen der Dyna­mi­ken des Kapi­ta­lis­mus darzulegen.

Es bleibt abzu­war­ten, ob die Plu­ra­li­sie­rung der Öko­no­mik, zu einer Über­prü­fung der alten Wahr­hei­ten bei­trägt und die öffent­li­che Debat­ten gleich­zei­tig ver­sach­li­chen und viel­fäl­ti­ger machen kann.

Jani­na Urban arbei­tet seit 2015 als wis­sen­schaft­li­che Refe­ren­tin im The­men­be­reich Neu­es öko­no­mi­sches Den­ken im For­schungs­in­sti­tut für gesell­schaft­li­che Wei­ter­ent­wick­lung (FGW) in Düs­sel­dorf. Im Jahr 2015 schloss sie ihren Mas­ter in Eco­no­mics an der Frei­en Uni­ver­si­tät Ber­lin ab und ist seit län­ge­rer Zeit unter ande­rem im Netz­werk Plu­ra­le Öko­no­mik und der Inter­na­tio­nal Stu­dents Initia­ti­ve for Plu­ra­lism in Eco­no­mics (ISIPE) aktiv. Ihre Inter­es­sens­ge­bie­te lie­gen im Bereich der Makro­öko­no­mik und der sozi­al-öko­lo­gi­schen Transformationsforschung.

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