2010 August – BEIGEWUM

Archiv für August 2010


BEIGEWUM-Stellungnahme zur Budgetkonsolidierung

24. August 2010 – 15:42 Uhr

Alter­na­ti­ven zur neo­li­be­ra­len Budgetkonsolidierung 

Die Aus­wir­kun­gen der stärks­ten Kri­se des kapi­ta­lis­ti­schen Wirt­schafts­sys­tems seit 80 Jah­ren konn­ten mit mas­si­ver Staats­in­ter­ven­ti­on dies­mal ver­gleichs­wei­se rasch ein­ge­dämmt wer­den. Ban­ken wur­den geret­tet, der Wirt­schafts­ein­bruch begrenzt, die Mas­sen­ein­kom­men sta­bi­li­siert, zumin­dest in Öster­reich der Anstieg der Arbeits­lo­sig­keit über­schau­bar gehal­ten – aber vor allem wur­den auch die Ver­mö­gens­wer­te gesi­chert. All das gab es nicht zum Null­ta­rif – im Gegen­teil: Allei­ne in der Euro­zo­ne sam­mel­ten sich Kri­sen­schul­den in Höhe von einem Fünf­tel der Wirt­schafts­leis­tung an, rund 1,5 Bil­lio­nen Euro (AT: rund 10 % des BIP bzw. knapp 30 Mrd Euro).

Vor die­sem Hin­ter­grund meh­ren sich die Ver­su­che, das Ver­ur­sa­cher­prin­zip aus den gegen­wär­ti­gen bud­get­po­li­ti­schen Debat­ten aus­zu­blen­den. Umso mehr bedarf es der Klar­stel­lung, dass die höhe­re Staats­ver­schul­dung tat­säch­lich auf­grund der Kri­se – und nicht auf­grund plötz­lich über­bor­den­der Sozi­al­leis­tun­gen – so rasch steigt: Die Kri­sen­schuld drückt sich eben nicht nur in Ban­ken- und Kon­junk­tur­pa­ke­ten, son­dern eben auch in höhe­ren Sozi­al­aus­ga­ben für Arbeits­lo­sig­keit, sin­ken­des Abga­ben­auf­kom­men und stei­gen­de Abgangs­de­ckun­gen der Bei­trags­aus­fäl­le in den Sozi­al­ver­si­che­rungs­töp­fen aus. Gleich­zei­tig ist her­vor­zu­strei­chen, dass gera­de im Haupt­kri­sen­jahr 2009 die Ver­mö­gen bzw. die Zahl der Mil­lio­nä­re gemäß diver­sen Wealth Reports 2009 wie­der deut­lich gestie­gen ist – vor allem auf­grund stei­gen­der Bör­sen­kur­se. Die­se hän­gen eng damit zusam­men, dass Unter­neh­men bei Per­so­nal sowie Inves­ti­tio­nen spar­ten, wäh­rend sie zumeist die Divi­den­den­aus­schüt­tungs­quo­ten stei­ger­ten und Mana­ge­rIn­nen­be­zü­ge üppig beließen.

Kri­se als Chan­ce neo­li­be­ra­ler Reformpolitik?

Folgt man der Logik von OECD, EZB, EU-Kom­mis­si­on sowie Wirt­schafts­lob­bys und ihren Par­tei­en, müs­sen die Kri­sen­schul­den nun mög­lichst radi­kal abge­baut wer­den. Am bes­ten durch eine ver­schärf­te Durch­set­zung der bereits vor der Kri­se ins Sto­cken gera­te­nen neo­li­be­ra­len Reform­po­li­tik (kaum wei­te­re Libe­ra­li­sie­rung von Dienst­leis­tun­gen, öffent­li­cher Daseins­vor­sor­ge oder Arbeits­be­zie­hun­gen). Am Pro­gramm ste­hen ins­be­son­de­re Kür­zun­gen der Staats­haus­hal­te mit dem Ziel einer erneu­er­ten Inten­si­tät der wett­be­werbs­staat­li­chen Restruk­tu­rie­rung, Abbau der sozia­len Sicher­heit und erhöh­ter Druck auf Beschäf­tig­te län­ger und zu schlech­te­ren Bedin­gun­gen zu arbei­ten. Wo das nicht aus­reicht, sol­len Mas­sen­steu­ern die Kas­sen fül­len und vor allem ärme­ren Haus­hal­ten so man­che Las­ter finan­zi­ell aus­ge­trie­ben wer­den (Tabak, Alko­hol, Energieverbrauch).

Dis­kur­siv wer­den die Kri­sen­schul­den zuneh­mend in ein „Leben über den Ver­hält­nis­sen“ der gesam­ten Bevöl­ke­rung bzw des Staats­ap­pa­ra­tes umge­deu­tet, wel­ches nun nicht mehr leist­bar sei. So wird die Ver­tei­lungs­fra­ge bewusst aus­ge­blen­det, die sich sowohl vor, in und nach der Kri­se stellt. Folg­lich wer­den höhe­re Steu­ern für beson­ders wohl­ha­ben­de Schich­ten bes­ten­falls in Fuß­no­ten in Betracht gezo­gen. Im Mit­tel­punkt steht aber nur eines, näm­lich Spa­ren – bevor­zugt bei mög­lichst wei­ten Tei­len der Bevöl­ke­rung: Pen­sio­nis­tIn­nen, Arbeits­lo­sen, Schü­le­rIn­nen, öffent­lich Bediens­te­ten, sozi­al Schwä­che­ren, usw. Ganz im Sin­ne des Thatcher’schen Leit­spruchs heißt es wie­der „The­re is no alter­na­ti­ve“. Dass dies unver­meid­li­che nega­ti­ve Fol­gen nicht nur für die Betrof­fe­nen, son­dern auch gesamt­ge­sell­schaft­lich in Form von höhe­rer Arbeits­lo­sig­keit und nied­ri­ge­rem Wohl­stand für alle hat, wird zwar immer wie­der wis­sen­schaft­lich bestä­tigt, aber poli­tisch igno­riert oder mit der zwei­fel­haf­ten Pro­gno­se von posi­ti­ven Effek­ten in 30 Jah­ren ver­schlei­ert. Eben­so, dass es genau des­halb eine brei­te gesell­schaft­li­che Debat­te und mehr Mit­be­stim­mung statt Sach­zwang- und Blut-Schweiß-Trä­nen-Logik bedürfte.

Die­ses war bereits das domi­nie­ren­de Mus­ter der Kri­sen­po­li­ti­ken der 1980er und 1990er. Die Welt­wirt­schafts­kri­se der 1930er Jah­re wur­de hin­ge­gen – spä­tes­tens nach der Über­win­dung der sie beglei­ten­den Faschis­men – noch zu einem fun­da­men­ta­len Wech­sel in der Wirt­schafts­po­li­tik genutzt, der in den Indus­trie­staa­ten zumin­dest bis Ende der 60er noch nie dage­we­se­ne Wohl­stands­zu­wäch­se brachte.

Alter­na­ti­ven zu Spa­ren UND Schul­den gefragt

Bud­get­de­fi­zi­te sind in spe­zi­fi­schen Situa­tio­nen – wie ins­be­son­de­re der aktu­el­len – zwecks Sta­bi­li­sie­rung der Wirt­schaft im Sin­ne einer keyne­sia­ni­schen Wirt­schafts­po­li­tik, teu­ren Groß­pro­jek­te oder zwecks Inves­ti­tio­nen mit einem über den Zins­kos­ten lie­gen­dem Ertrags­wert zwei­fels­oh­ne sinn­voll. Lang­fris­tig soll­te eine wach­sen­de Staats­ver­schul­dungs­quo­te aber ver­mie­den wer­den: Ers­tens wür­de sie zu einem wach­sen­den Anteil der Zins­kos­ten an den Gesamt­aus­ga­ben füh­ren, sprich es bleibt ein gerin­ge­rer Teil für ande­re Aus­ga­ben. Zwei­tens steigt die poten­zi­el­le Abhän­gig­keit von den Kapi­tal­ge­be­rIn­nen (auch wenn die­se nur in den sel­tens­ten Fäl­len so kon­kret mani­fest wird wie zuletzt etwa in Grie­chen­land). Drit­tens ver­tei­len sie zu Wohl­ha­ben­den um, denn Staats­schul­den sind immer auch – im All­ge­mei­nen sehr ungleich ver­teil­te – Finanz­ver­mö­gen ande­rer: ins­be­son­de­re von Ban­ken, wei­ters von Invest­ment­fonds und Ver­si­che­run­gen, eher sel­te­ner direkt von rei­chen Pri­vat­per­so­nen. Es ist eine beson­de­re Iro­nie der Kri­se, wenn nun die staat­lich geret­te­ten Ban­ken – deren Ent­schei­dungs­gre­mi­en zumeist nicht ange­tas­tet wur­den – nun ihre Macht als wich­tigs­te Kapi­tal­ge­be­rin­nen der Staa­ten gegen die­se aus­spie­len und via höhe­re Zin­sen durch Risi­ko­auf­schlä­ge maß­geb­lich dar­an verdienen.

Eine höhe­re Ver­schul­dung ist daher bis zu einem gewis­sen Grad nur ein schlech­tes Sub­sti­tut für höhe­re ver­mö­gens­be­zo­ge­ne Steu­ern: Im einen Fall muss das Geld plus Zin­sen wie­der zurück­ge­zahlt wer­den, im ande­ren steht es per Gesetz der öffent­li­chen Hand zu. Im einen Fall wird die poli­ti­sche Macht des Finanz­ka­pi­tals gestärkt, im ande­ren die Ent­schei­dungs­macht der Finan­ziers ein­ge­schränkt. So schlug bereits Joseph Schum­pe­ter zu Beginn der 1. Repu­blik vor, die dama­li­gen Kriegs­schul­den mit einer ein­ma­li­gen, gro­ßen Ver­mö­gens­ab­ga­be zu til­gen. In der aktu­el­len Kri­se for­der­te ledig­lich die IG-Metall in Deutsch­land eine Zwangs­an­lei­he für Rei­che, die real­po­li­tisch jedoch noch weni­ger Erfolgs­aus­sicht haben dürf­te als zumin­dest mode­ra­te ver­mö­gens­be­zo­ge­ne Abgaben.

Her­aus­for­de­run­gen Arbeits­lo­sig­keit und Kri­sen­ver­mei­dung nicht min­der dringlich

Zur Kon­so­li­die­rung der Staats­fi­nan­zen gibt es mit­tel­fris­tig folg­lich tat­säch­lich kei­ne Alter­na­ti­ve, sehr wohl aber bezüg­lich „wer“, „wann“ und des „wie“. Wich­tig ist, dass sie nicht los­ge­löst von der Wirt­schafts­kri­se erfolgt. Sie soll des­halb Teil einer aus­ge­wo­ge­nen Wirt­schafts­po­li­tik sein, die neben dem Abbau der Defi­zi­te auch einen Abbau der deut­lich über 20 Mio Arbeits­lo­sen in Euro­pa, höhe­re und glei­cher ver­teil­te Wohl­stands­ge­win­ne, einen öko­lo­gi­schen Umbau der Wirt­schaft usw. zum Ziel hat. Sie muss aber auch auf eine Ver­mei­dung zukünf­ti­ger Kri­sen abzie­len, denn ange­sichts der Dimen­si­on der Kri­sen­schul­den wäre ihre Ver­mei­dung die mit Abstand bes­te Kon­so­li­die­rungs­stra­te­gie gewe­sen. Aus­gangs­punkt müs­sen des­halb auch Lösun­gen der struk­tu­rel­len Kri­sen­ur­sa­chen sein – im Wesent­li­chen die in Deutsch­land vom Insti­tut für Makro­öko­no­mie und Kon­junk­tur­for­schung gepräg­ten „3 U“: Ungleich­heit, Ungleich­ge­wich­te im Außen­han­del und Unver­nunft auf den Finanzmärkten.

Die aktu­el­len Kon­so­li­die­rungs­pro­zes­se auf euro­päi­scher wie natio­na­ler Ebe­ne sind Ver­su­che eine unso­zia­le Poli­tik der lee­ren Kas­sen durch­zu­set­zen: Fahr­läs­sig pro­du­zier­te Defi­zi­te wer­den genutzt um staat­li­che Leis­tun­gen ein­zu­schrän­ken oder zu pri­va­ti­sie­ren. Auch dies­mal wird haupt­säch­lich auf Aus­ga­ben­kür­zun­gen gesetzt wer­den, wäh­rend Ver­mö­gen bzw der Finanz­sek­tor kaum belas­tet wer­den. Die­se Kür­zun­gen dämp­fen jedoch die wirt­schaft­li­che Erho­lung, Beschäf­ti­gung und sozia­len Zusam­men­halt, denn Staats­aus­ga­ben sind ver­ant­wort­lich für einen wesent­li­chen Teil der gesamt­wirt­schaft­li­chen Nach­fra­ge. Gera­de in Län­dern wie Spa­ni­en wäre es fatal, wie ange­kün­digt bereits 2013 die Maas­tricht-Kri­te­ri­en wie­der ein­zu­hal­ten, zumin­dest solan­ge die Wirt­schafts- und Beschäf­ti­gungs­ent­wick­lung nicht kräf­tig anzie­hen. Gefragt ist außer­dem eine dif­fe­ren­zier­te Stra­te­gie: Län­der mit Leis­tungs­bi­lanz­über­schüs­sen und unter­durch­schnitt­li­chen Defi­zi­ten soll­ten eine weni­ger restrik­ti­ve Fis­kal­po­li­tik fah­ren um den Spiel­raum von Spa­ni­en & Co zu erhöhen.

In Öster­reich sieht der Plan der Bun­des­re­gie­rung für 2011 eine Defi­zit­re­duk­ti­on von bis zu 4 Mrd Euro mit aus­ga­ben­sei­ti­gem Schwer­punkt vor – gera­de vor dem Hin­ter­grund einer im euro­päi­schen Ver­gleich guten Aus­gangs­la­ge eine absurd hohe Vor­ga­be (ins­be­son­de­re wenn – wie von der Regie­rung vor­ge­se­hen – im Bil­dungs­be­reich mehr Mil­lio­nen als beim Heer ein­ge­spart wer­den sol­len). Es ist zu befürch­ten, dass Unter­fi­nan­zie­rung im Bil­dungs­be­reich, feh­len­de För­de­rung von Klein­kin­dern, Arbeits­lo­sig­keit und feh­len­de sozia­le Absi­che­rung die Chan­cen zukünf­ti­ger Genera­tio­nen beschrän­ken. Gemäß WIFO-Stu­di­en müss­te ein Kon­so­li­die­rungs­vo­lu­men von einer Mil­li­ar­de Euro – je nach Maß­nah­me – bis zu 0,7 % des BIP bzw 25.000 Arbeits­plät­ze kos­ten. Das wird wie­der­um dazu füh­ren, dass die Kon­so­li­die­rung selbst gefähr­det ist, weil der Nach­fra­ge­aus­fall zB die Staats­ein­nah­men wei­ter senkt oder die Aus­ga­ben durch Arbeits­lo­sig­keit erhöht. Es wird geschätzt, dass ein um 1 %-Punkt nied­ri­ge­res Wirt­schafts­wachs­tum das Bud­get­de­fi­zit um knapp 0,5 % des BIP ver­schlech­tert. Spa­ren alle Euro­päi­schen Staa­ten gleich­zei­tig, ver­stär­ken sich die nega­ti­ven Effek­te sogar noch wech­sel­sei­tig.

Ver­mö­gen­de und Finanz­sek­tor besteuern

Die Kon­so­li­die­rung muss folg­lich zual­ler­erst auf der Ein­nah­men­sei­te anset­zen und zwar dort, wo sie eine adäqua­te Kri­sen­ant­wort sind und von den Betrof­fe­nen geschul­tert wer­den kön­nen: bei Ver­mö­gen­den. Das wür­de bedeu­ten, Ver­mö­gens­zu­wäch­se, Erb­schaf­ten und Schen­kun­gen sowie Ver­mö­gen an sich zu belas­ten sowie höhe­re Spit­zen­steu­er­sät­ze auf sehr hohe Ein­kom­men ein­zu­he­ben (zB ab etwa 250.000 Euro/​Jahr). Zusätz­lich müss­ten im Finanz­sek­tor desta­bi­li­sie­ren­de Akti­vi­tä­ten redu­ziert wer­den, auch – aber nicht nur – mit Steu­ern: Finanz­trans­ak­ti­ons­steu­er, Ban­ken­ab­ga­be und höhe­re Besteue­rung von Boni­fi­ka­tio­nen kön­nen hier posi­ti­ve Len­kungs­ef­fek­te brin­gen. Die­se Steu­ern kön­nen zudem als Abgel­tung für die Ret­tung der Ver­mö­gen der Bank­ak­tio­nä­rIn­nen auf Staats­kos­ten gese­hen wer­den, die ohne Inter­ven­ti­on deut­lich ver­rin­gert oder ver­nich­tet wor­den wären.

Sie sind aber auch aus ande­ren Grün­den ande­ren Maß­nah­men wie höhe­ren Aus­ga­ben­kür­zun­gen vor­zu­zie­hen: Sie wir­ken sich posi­tiv auf die Ein­kom­mens­ver­tei­lung aus, sie ste­hen in engem Zusam­men­hang mit der Kri­se, sie fin­den eine rela­tiv brei­te Zustim­mung in der Bevöl­ke­rung und sie haben kaum nega­ti­ve Fol­gen für die gesamt­wirt­schaft­li­che Nach­fra­ge, da Rei­che eher mit Spar- als mit Kon­sum­ver­zicht reagie­ren. Spe­zi­ell in Öster­reich kommt hin­zu, dass die Abga­ben­quo­te von Ver­mö­gen auch im inter­na­tio­na­len Ver­gleich rekord­ver­däch­tig nied­rig ist.

Das Defi­zit-Dilem­ma ist nur lang­fris­tig und mit höhe­ren ver­mö­gens­be­zo­ge­nen Steu­ern sinn­voll zu lösen, die nicht nur wenig wachs­tums­hem­mend, son­dern vor allem auch sozi­al gerecht sind. Höhe­re Steu­ern sind auch des­halb ange­bracht, weil andern­falls ein Abbau der Kri­sen­schul­den wohl zu Las­ten not­wen­di­ger Zukunfts­in­ves­ti­tio­nen geht: qua­li­ta­tiv hoch­wer­ti­ge Bil­dung, Pfle­ge, Kin­der­be­treu­ung sowie Inte­gra­ti­on und eine Ener­gie­wen­de erfor­dern höhe­re Aus­ga­ben, die es für eine Zukunft ohne neo­li­be­ra­len Back­lash zu finan­zie­ren gilt.

Schuldenbremse nach deutschem Vorbild?

8. August 2010 – 19:31 Uhr

Die Indus­tri­el­len­ver­ei­ni­gung und das IHS wol­len eine Schul­den­brem­se in Öster­reich ein­füh­ren und sich dabei an Deutsch­land ori­en­tie­ren. So berich­ten es u.a. der Stan­dard und der ORF. Dabei wird jedoch  über­se­hen, dass die Funk­ti­ons­fä­hig­keit der deut­schen Schul­den­brem­se mas­siv zu bezwei­feln ist (vgl. Him­pe­le 2010), und dass zudem  dog­ma­tisch über Staats­ver­schul­dung gespro­chen wird, ohne  öko­no­mi­sche Argu­men­te und Erwä­gun­gen anzu­füh­ren. Drit­tens  soll mit der deut­schen Schul­den­brem­se dafür gesorgt wer­den, das Bud­get aus­ga­ben­sei­tig zu kon­so­li­die­ren. Eine sinn­vol­le Erhö­hung der Steu­ern wird dabei völ­lig außer Acht gelas­sen. Der Schwei­zer Kan­ton St. Gal­len regelt das anders.


Staatsverschuldung – Gründe und Probleme

Eine Ver­schul­dung des Staa­tes muss immer gut begrün­det wer­den,  da sie Zins­zah­lun­gen und Til­gungs­leis­tun­gen nach sich zieht, was spä­te­re Hand­lungs­mög­lich­kei­ten ein­schränkt. Ganz all­ge­mein kann mit Cor­neo (2009, S. 5) gesagt wer­den, dass „[d]ie first-best-Regel der Finanz­po­li­tik ver­langt, daß die­se so aus­ge­wählt wird, daß die sozia­le Wohl­fahrt des Lan­des bei Ein­hal­tung der Bud­get­be­schrän­kun­gen […] maxi­miert wird.“ Der Staat soll­te sich also dann ver­schul­den, wenn der Ertrag (gerin­ge­re Arbeits­lo­sig­keit, Wirt­schafts­wachs­tum, Infra­struk­tur­be­reit­stel­lung, sozia­ler Frie­de …) der schul­den­fi­nan­zier­ten Maß­nah­men die Kos­ten der Ver­schul­dung über­steigt. Dies lässt sich zwar nicht immer ein­deu­tig ermit­teln, kann aber als Annä­he­rung an eine ratio­na­le Finanz­po­li­tik ver­stan­den wer­den. Es kann dem­nach nicht dar­um gehen, Staats­schul­den zu ver­bie­ten, son­dern nur dar­um, Staats­ver­schul­dung gezielt und sinn­voll einzusetzen.
Die Arbeits­grup­pe Alter­na­ti­ve Wirt­schafts­po­li­tik (2005, S. 154ff. und 2008, S. 169ff.) hat eini­ge Grün­de für die Staats­ver­schul­dung genannt, die sich wie folgt zusam­men­fas­sen las­sen (vgl. Him­pe­le 2010: 18):


  • Ohne Schul­den gibt es in einer Volks­wirt­schaft kei­ne Erspar­nis, da jeder Geld­for­de­rung eine Ver­bind­lich­keit in glei­cher Höhe ent­ge­gen­ste­hen muss. Wenn die Geld­ver­mö­gens­bil­dung der pri­va­ten Haus­hal­te steigt und die Erspar­nis­se nicht durch nicht­fi­nan­zi­el­le Kapi­tal­ge­sell­schaf­ten als Kre­dit auf­ge­nom­men wer­den (um real zu inves­tie­ren), son­dern die­se im Gegen­teil selbst Über­schüs­se bil­den und über­dies die Ver­schul­dung des Aus­lands begrenzt ist, fin­den die Erspar­nis­se zum Teil kei­ne rea­le Ver­wen­dung. In die­sem Fall muss der Staat „die ‚Lückenbüßer‘-Funktion über­neh­men. Tut er das nicht, wird man­gels bin­nen­wirt­schaft­li­cher Nach­fra­ge die Pro­duk­ti­on zurück­ge­hen“, bis die hier­durch rück­läu­fi­gen Erspar­nis­se der Sum­me aus Investitions‑, Staats­nach­fra­ge und Export­über­schuss ent­spre­chen (Arbeits­grup­pe Alter­na­ti­ve Wirt­schafts­po­li­tik 2008, S. 174).
  • Auch gegen kon­junk­tu­rel­le Abschwün­ge ist Staats­ver­schul­dung ein ratio­na­les Instru­ment, da die „Ratio­na­li­täts­fal­le zwi­schen dem Resul­tat ein­zel­wirt­schaft­li­cher Ent­schei­dun­gen im Wett­be­werb und dem an sich mach­ba­ren höhe­ren Wirt­schafts­wachs­tum samt Beschäf­ti­gung“ nur der Staat über­win­den kann (ebd., S. 176).
  • Inves­ti­tio­nen, die künf­tig zu nach­hal­ti­gen Vor­tei­len füh­ren, kön­nen eben­falls schul­den­fi­nan­ziert werden.
  • Künf­ti­ge Genera­tio­nen erben nicht nur die Schul­den, son­dern auch den Nut­zen der Staats­aus­ga­ben etwa in Form von Infra­struk­tur. Daher kön­nen Inves­ti­tio­nen eben­falls nach dem Prin­zip des pay-as-you-use über Staats­schul­den finan­ziert wer­den (vgl. Arbeits­grup­pe Alter­na­ti­ve Wirt­schafts­po­li­tik 2005, S. 155; dies. 2008, S. 177f.).


Klar ist: Staats­ver­schul­dung birgt erheb­li­che Risi­ken. Klar ist aber auch: Staats­ver­schul­dung kann gezielt und sinn­voll genutzt wer­den. Die Fra­ge, die es zu beant­wor­ten gilt, ist dem­nach, ob die Staats­ver­schul­dung aus zu hohen Aus­ga­ben oder zu gerin­gen Ein­nah­men resul­tiert. Zudem stellt sich die Fra­ge, ob die Diver­genz von Ein­nah­men und Aus­ga­ben tem­po­rär oder struk­tu­rell ist. Ent­spre­chen­de Staats­ver­schul­dun­gen müs­sen sich  an der öko­no­mi­schen Rea­li­tät und nicht an einem popu­lis­ti­schen Dog­ma­tis­mus orientieren.


Die deutsche Schuldenbremse


Die deut­sche Schul­den­brem­se sieht vor, dass die Staats­schul­den in eine struk­tu­rel­le und eine kon­junk­tu­rel­le Kom­po­nen­te unter­teilt wer­den. Die kon­junk­tu­rel­le Kom­po­nen­te soll dabei dazu füh­ren, dass sich der Staat im kon­junk­tu­rel­len Tief ver­schul­den darf, jedoch im kon­junk­tu­rel­len Hoch ent­spre­chen­de Til­gungs­zah­lun­gen zu leis­ten hat. Die struk­tu­rel­le – also nicht näher zu begrün­den­de – Ver­schul­dung soll im Bund ab 2016 maxi­mal 0,35 Pro­zent des BIP betra­gen dür­fen, in den Län­dern soll sie ab 2020 gänz­lich unterbleiben.
Was sich sinn­voll anhö­ren mag birgt erheb­li­che Pro­ble­me. So ist die Unter­tei­lung der Kom­po­nen­ten fak­tisch nicht mög­lich und die Wir­kung kon­junk­tu­rel­ler Ent­wick­lun­gen auf das Bud­get (Bud­get­sen­si­ti­vi­tät) kaum im Vor­aus zu ermit­teln. Die Aus­ge­stal­tung die­ser Rege­lun­gen bestimmt jedoch, wel­che Schul­den tat­säch­lich im Rah­men der gesetz­li­chen Rege­lun­gen mög­lich sind. Wei­te­re Pro­ble­me erge­ben sich in Deutsch­land dadurch, dass die Steu­er­ge­set­ze vom Bund und ggf. unter Zustim­mung der Län­der im Bun­des­rat (per Mehr­heits­ent­schei­dung) erlas­sen wer­den. Daher hat ein ein­zel­nes Land kaum Ein­fluss auf sei­ne Ein­nah­men.  Die Schul­den­brem­se kann also nur aus­ga­ben­sei­tig erreicht wer­den, dies jedoch zu Las­ten der Län­der­aus­ga­ben – in Deutsch­land gehö­ren hier etwa Bil­dung (Schu­len, Hoch­schu­len), Sicher­heit (Poli­zei) und zahl­rei­che sozia­le Leis­tun­gen sowie Kul­tur dazu. In den mit­tel­fris­ti­gen Finanz­pla­nun­gen der Län­der sind des­halb auch erheb­li­che Kür­zun­gen vor­ge­se­hen, so ist bereits eine Hoch­schu­le in Schles­wig-Hol­stein gefähr­det und über­all sol­len Lan­des­per­so­nal abge­baut wer­den. Die­se Poli­tik ori­en­tiert sich  nicht an den Not­wen­dig­kei­ten, son­dern an der Schul­den­brem­se. Frag­lich ist zudem, ob eine der­ar­ti­ge Poli­tik nicht die Bin­nen­nach­fra­ge wei­ter abschnürt und so die Erreich­bar­keit des Ziels der struk­tu­rel­len Null­ver­schul­dung erst recht ver­un­mög­licht. An die­ser Stel­le soll auf eine aus­führ­li­che Dar­stel­lung ver­zich­tet wer­den. Wei­te­re Infor­ma­tio­nen fin­den sich bei Him­pe­le (2010), Tru­ger et al. (2009) und Horn et al. (2008; 2009).


Die Schuldenbremse im Kanton St. Gallen

Deutsch­land ist nicht das ein­zi­ge Land mit einer soge­nann­ten Schul­den­brem­se. Auch die Schweiz hat sol­che Rege­lun­gen, eben­so ein­zel­ne Kan­to­ne, etwa St. Gal­len. Das zuläs­si­ge Defi­zit beträgt hier 3 Pro­zent der ein­fa­chen Steu­er­ein­nah­men des Kan­tons. Erst wenn ein Über­schuss, d.h. höhe­re Staats­ein­nah­men als Staats­aus­ga­ben, erwirt­schaf­tet wur­de, der min­des­tens das Sie­ben­fa­che die­ses zuläs­si­gen Defi­zits beträgt, dür­fen im Kan­ton St. Gal­len die Steu­ern gesenkt wer­den (vgl. Kirch­gäss­ner 2010, S. 8). Damit wird die Ein­nah­me­sei­te des Kan­tons sta­bi­li­siert, da Steu­er­sen­kun­gen nur dann zuläs­sig sind, wenn die Staats­ein­nah­men tat­säch­lich zur Deckung der Staats­aus­ga­ben aus­rei­chen.  Die Schul­den­brem­se damit  auch eine Steu­er­sen­kungs­brem­se. Auf gesamt­schwei­zer Ebe­ne sind die Rege­lun­gen jedoch anders, und Kirch­gäss­ner (2010, S. 15) schreibt dazu: „Die dahin­ter ste­hen­de Phi­lo­so­phie besteht dar­in, die Ein­nah­men zu begren­zen und die Aus­ga­ben an die Ein­nah­men anzu­pas­sen.“ Dies liegt auch dar­an, dass Steu­er­erhö­hun­gen auf natio­na­ler Ebe­ne in der Regel Geset­zes- und/​oder Ver­fas­sungs­än­de­run­gen bedür­fen und daher schwer durch­zu­set­zen sind. Die Bud­get­sa­nie­rung soll dem­nach vor allem aus­ga­ben­sei­tig gesche­hen – dies dürf­te auch für die Poli­tik in Öster­reich gelten.


Schuldenbremse oder Steuersenkungsbremse?

Öster­reich ver­zich­tet auf erheb­li­che Ein­nah­men durch eine ange­mes­se­ne Besteue­rung der Ver­mö­gen. Dar­auf haben wir in die­sem Blog bereits mehr­fach hin­ge­wie­sen (bspw. hier). Ähn­lich wie in Deutsch­land sind zudem immer wie­der Steu­ern für Unter­neh­men gesenkt wor­den, so dass das Land auf Ein­nah­men ver­zich­tet. Das der­zei­ti­ge star­ke Anwach­sen der Staats­schul­den ist zudem auf die Finanz- und Wirt­schafts­kri­se zurück­zu­füh­ren. Die­se wur­de bekannt­lich durch dere­gu­lier­te Finanz­märk­te ver­ur­sacht, und auch , weil Ein­kom­men und Ver­mö­gen immer unglei­cher ver­teilt sind und dadurch die Kri­sen­ten­den­zen ver­stärkt wur­den (vgl. auch BEIGEWUM/​Attac 2010, S. 32ff.).

Die­se Tat­sa­chen sind bekannt. Die Lösung wäre dem­nach eine stär­ke­re Besteue­rung hoher Ein­kom­men und Ver­mö­gen. Dies hät­tet zwei Effek­te: Ers­tens lie­ße sich die Staats­ver­schul­dung so ein­nah­me­sei­tig begren­zen, ohne dass sozia­le und öffent­li­che Leis­tun­gen ein­ge­schränkt wer­den müss­ten. Zwei­tens wür­de das „Spiel­geld“ für Spe­ku­la­tio­nen ver­rin­gert. Dass die Indus­tri­el­len­ver­ei­ni­gung die Kos­ten, auch der Kri­se, lie­ber via Spar­maß­nah­men auf die brei­te Bevöl­ke­rung abschie­ben will, ins­be­son­de­re auch auf Per­so­nen, die auf staat­li­che Unter­stüt­zung ange­wie­sen sind, ist nicht ver­wun­der­lich. Aller­dings soll­ten wir uns dage­gen wehren.


Literatur

  • Arbeits­grup­pe Alter­na­ti­ve Wirt­schafts­po­li­tik (2005): Memo­ran­dum 2005. Sozi­al­staat statt Kon­zern-Gesell­schaft, Köln.
  • Arbeits­grup­pe Alter­na­ti­ve Wirt­schafts­po­li­tik (2008): Memo­ran­dum 2008. Neu­ver­tei­lung von Ein­kom­men, Arbeit und Macht. Alter­na­ti­ven zur Bedie­nung der Ober­schicht, Köln.
  • BEIGEWUM – Bei­rat für gesellschafts‑, wirt­schafts- und umwelt­po­li­ti­sche Alter­na­ti­ven /​ Attac Öster­reich (2010): Mythen der Kri­se. Ein­sprü­che gegen fal­sche Leh­ren aus dem gro­ßen Crash, Hamburg.
  • Cor­neo, Gia­co­mo (2009): Ver­schul­dung und Kon­so­li­die­rung, Berlin.
  • Him­pe­le, Kle­mens (2010): Die Umsetz­bar­keit der Schul­den­brem­se in den Län­dern. Stu­die im Auf­trag der Frak­ti­ons­vor­sit­zen­den­kon­fe­renz der LINKEN. End­fas­sung, Wien. Down­load als PDF.
  • Horn, Gut­sav /​ Niechoj, Tors­ten /​ Tru­ger, Achim /​ Ves­per, Die­ter /​ Zwie­ner, Rudolf (2008): Zu den Wir­kun­gen der BMF-Schul­den­brem­se, Düsseldorf.
  • Horn, Gus­tav /​ Tru­ger, Achim /​ Pro­año, Chris­ti­an (2009): Stel­lung­nah­me zum Ent­wurf eines Begleit­ge­set­zes zur zwei­ten Föde­ra­lis­mus­re­form BT Druck­sa­che 16/​12400 und Ent­wurf eines Geset­zes zur Ände­rung des Grund­ge­set­zes BT Druck­sa­che 16/​12410, Düsseldorf.
  • Kirch­gäss­ner, Geb­hard (2010): Insti­tu­tio­nel­le Mög­lich­kei­ten zur Begren­zung der Staats­ver­schul­dung in föde­ra­len Staa­ten. SCALA Poli­cy Paper No. 01/​2010, St. Gallen.
  • Tru­ger, Achim /​ Eicker-Wolf, Kai /​ Will, Hen­ner /​ Köhrsen, Jens (2009): Aus­wir­kun­gen der Schul­den­brem­se auf die hes­si­schen Lan­des­fi­nan­zen. Ergeb­nis­se von Simu­la­ti­ons­rech­nun­gen für den Über­gangs­zeit­raum von 2010 bis 2020, Düsseldorf.


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