Rating Agenturen – wozu noch?
Im Fokus der Kritik der vergangenen Wochen waren wieder einmal die Rating-Agenturen. Die von diesen verhängten Verschlechterungen im Rating von Ländern wie Griechenland, Portugal oder Spanien haben deren Zugang zu den Kapitalmärkten bedeutend erschwert. Die Risikoaufschläge, die diese Länder zu Refinanzierung ihrer Staatsschuld zahlen müssen, sind zum Teil drastisch gestiegen. Ergibt sich daraus ein Zinssatz von 10% oder mehr, ist die Verschuldung für das Land de-facto nicht mehr finanzierbar. Den Rating-Agenturen wurde daher vorgeworfen, die Krise dieser Länder noch weiter zu verschlimmern.
Daher wurde die Kritik an den Rating-Agenturen, die im Zuge der US-amerikanischen Hypothekenkrise ja schon aufgekommen war, auch in Europa wieder lauter. In den Chor der KritikerInnen stimmte diesmal auch die deutsche Kanzlerin Angela Merkel ein. Diese meinte, die Einrichtung einer europäischen Rating-Agentur wäre nötig, um das herrschende US-amerikanische Oligopol von Rating-Agenturen (Standard&Poors, Moodys, Fitch) zu brechen. Nur so könnten europäische Interessen besser gewahrt werden. Merkel wiederholt damit eine Forderung, die in ähnlicher Form schon von anderen ExpertInnen und PolitikerInnen als Forderung an die europäische Re-Regulierung der Finanzmärkte gestellt worden ist.
Ist aber die Einrichtung einer europäischen Rating-Agentur wirklich die Lösung des Problems? Bevor ich darauf näher eingehe, sollten wir dem Phänomen Rating-Agenturen zuerst auf den Grund gehen. Was machen Rating-Agenturen eigentlich? Rating-Agenturen sind private Firmen, deren Geschäft darin besteht, die Kreditwürdigkeit von Unternehmen, Banken, aber auch öffentlichen Körperschaften und Staaten zu beurteilen. Ergebnis der Beurteilung ist ein Rating, d.h. eine Note in einem von Firma und Firma leicht unterschiedlichen Beurteilungsschema. Wie der Beurteilungsprozess genau abläuft, welche Indikatoren mit welchem Gewicht in die Bewertung einfließen, ist allerdings der Öffentlichkeit nicht bekannt. Die Firmen betrachten ihre Rating-Modelle als Geschäftsgeheimnisse.
Die andere Frage in diesem Zusammenhang ist, welche volkswirtschaftliche Funktion Rating Agenturen erfüllen und warum Rating-Agenturen in den letzten 20 Jahren eine solche Bedeutung erlangen konnten. Festzuhalten ist, dass die Beurteilung der Kreditwürdigkeit von Schuldnern grundsätzlich eine Aufgabe des Gläubigers ist. In den kontinentaleuropäischen Bank-basierten Finanzsystemen fiel diese Aufgabe traditionell den Banken zu, da diese die Hauptfinanciers sowohl der Wirtschaft als auch der öffentlichen Körperschaften waren. Im Fall der Finanzierung über den Kapitalmarkt (z.B durch Emission von Unternehmensanleihen oder Staatsanleihen) tritt die die Emission durchführende Bank jedoch nicht mehr als Gläubiger, sondern als Vermittler auf. Sie kann daher durchaus die Bonitätsprüfung vornehmen, man könnte ihr aber einen Interessenskonflikt vorwerfen. Sie ist ja schließlich daran interessiert, dass die Anleihenemission ein Erfolg wird, und könnte daher versucht sein, die Bonität des Schuldners in zu gutem Licht darzustellen. Im Zuge der Expansion der Finanzmärkte der letzten 20 Jahre ging es zunehmend darum, neue derivative Finanzprodukte zu kreieren und auf den Markt zu werfen. Diese Kreationen wurden zu einem ertragreichen Wachstumsmarkt, der fette Renditen versprach. Hauptprofiteure dieser Entwicklung waren die (Investment-)Banken, die sich auf die Entwicklung dieser Produkte spezialisierten. Notorische Berühmtheit im Zuge der Finanzkrise erlangten Instrumente wie etwa Verbriefungen (z.B. CDOs – collateralized debt obligations) oder CDS – credit default swaps, das sind Wetten auf den Bankrott von Schuldnern. Um diesen neuen Instrumenten Glaubwürdigkeit zu geben, war das „Gütesiegel“ einer Bonitätsnote (Rating), vergeben von einer „unabhängigen“ Rating-Agentur äußerst geschäftsfördernd. Welch Zufall, dass die privaten , gewinnorientiert agierenden Rating-Agenturen jedes Interesse daran haben mussten, dass möglichst viele solcher neuen „Finanzinnovationen“ auf den Markt kamen. Schließlich verdienten sie an der Bewertung dieser Instrumente ja prächtig. Dass die Ratings daher etwas zu gut ausfielen, ist naheliegend.
Die Interessenkonvergenz zwischen Banken, anderen Finanzakteuren (z.B. Hedge-Fonds) und Rating-Agenturen liegt daher auf der Hand.
Aus dieser auch vom wirtschaftspolitischen Mainstream vertretenen Kritik, wurde die Forderung zur Einrichtung einer europäischen Agentur (z.T. in der Variante als öffentliche Gesellschaft) abgeleitet. Hinter dieser Forderung steht die Annahme, dass wenn die Interessen erst einmal außen vor gelassen werden, eine „objektive“ Beurteilung des Kreditrisikos möglich wäre. Mit anderen Worten, dass also die analytischen Instrumente existieren, die es fachlich qualifizierten und wirklich unabhängigen Instituten ermöglichten, ein „objektives“ Urteil abzugeben. Manche stellen sich daher eine solche Rating-Agentur als gerichtsähnliches ExpertInnengremium (ein neuer Weisenrat?) vor.
Diese Vorstellung ist allerdings aus zumindest zwei Gründen zu hinterfragen. Zum einen ist auch in einer öffentlichen Einrichtung, selbst wenn ihr formale Unabhängigkeit zuerkannt wird, immer mit Einflussnahme zu rechnen, sowohl von politischen als auch wirtschaftlichen Akteuren. Gerade im Geld- und Finanzwesen können sich auch als Inbegriff der Unabhängigkeit verstehende Organisationen wie Notenbanken politischer und wirtschaftlicher Einflussnahme nicht entziehen. Die jüngsten Politikänderungen der EZB zeigen dies deutlich.
Der andere, und gewichtigere Einwand ist ein epistemologischer. Kann es so etwas, wie ein objektes Rating-Modell, d.h. eine allgemeingültige Methode geben, anhand derer sich die Kreditwürdigkeit einer wirtschaftlichen Entität bemessen lässt? Ich meine nein. Die Kreditwürdigkeit ist nichts anderes als die Einschätzung der Rückzahlungsfähigkeit eines Schuldners. Diese Rückzahlungsfähigkeit hängt aber nicht nur von noch relativ leicht feststellbaren Gegenwartsparametern (Eigenkapitalquote, Cash-Flow u.ä.), sondern entscheidend von Zukunftsvariablen ab. Insbesondere die Geschäftsentwicklung eines Unternehmens, die wiederum vom Geschick des Managements, der Innovationsfähigkeit des Unternehmens, der Einsatzbereitschaft der ArbeitnehmerInnen, aber letztendlich auch von der allgemeinen Wirtschaftsentwicklung in der Zukunft abhängig ist, unterliegen einer fundamentalen Unsicherheit, die sich jedem probabilistischen Kalkül letztendlich entzieht. Diese Einsicht zu akzeptieren, bedeutet nicht, auf jedwede Bonitätsbeurteilung zu verzichten. Aber es ergeben sich zwei grundlegende Konsequenzen: erstens wird klar, dass jedes Rating-Modell keine allgemeingültige Beurteilung der Realität ist, sondern die Beurteilung einer möglichen Zukunft, die von einer ganz bestimmten theoretischen Perspektive aus getroffen wird und auf ganz bestimmten methodologischen Annahmen beruht. A‑priori lässt sich somit auch nicht sagen, welches von mehreren Rating-Modellen die tatsächliche Zahlungsfähigkeit eines Unternehmens oder Staates besser beurteilt. Ein Rating ist daher nicht mehr als eine Hpyothese über die zukünftige Zahlungsfähigkeit eines Schuldners. Die Hypothesen, die aufgrund der Ratingmodelle der marktbeherrschenden Agenturen generiert wurden, können angesichts der jüngsten Finanz- und Wirtschaftskrise nicht mehr den Anspruch erheben, irgendeinen superioren Prognosegehalt zu verkörpern. Vielmehr sind sie Teil des Problems, das mit dem Begriff „systemisches Risiko“ umschrieben wird, d.h. des systemimmanenten Aufbaus von Risiken im Finanzsystem selbst. Ratings sind mitauslösendes Moment systemimmanenter Phasen von „irrational exuberance“ wie auch kollektiver Paniken. Auch die sie erstellenden sog. ExpertInnen unterliegen selbst diesen kollektiven Schwankungen.
Zum anderen stellt sich die Frage, wie mit dieser fundamentalen Unsicherheit in institutioneller Hinsicht am besten umzugehen ist. Konkret: sind wenige oder gar eine einzige Rating-Agentur die beste institutionelle Lösung, oder gibt es andere und bessere Möglichkeiten. Die Beurteilung durch eine einzige oder einige wenige spezialisierte Agenturen setzt voraus, dass es möglich ist, (i) die dafür notwendigen Informationen und Einschätzungen zur zukünftigen Entwicklung zentral zu sammeln und (ii) dann durch ein spezifisches Rating-Modell beurteilen zu lassen. Die erste Annahme halte ich für unrealistisch, die zweite für unzweckmäßig. Ausnahmsweise möchte ich mit F.A. Hayek argumentieren, dass die Zentralisierung von Wissen zu Verlusten von dezentralem, nicht standardisierbarem Wissen führen muss. Wissen, das für die Bonitätsprüfung aber den qualitativen Unterschied ausmachen kann. Die Bankmitarbeiterin der regionalen Sparkasse, welche ihre Unternehmenskunden seit Jahrzehnten kennt, verfügt über Erfahrungswissen, das nicht gänzlich quantifizierbar bzw. kodifizierbar und damit für eine zentrale Planungsbehörde, wie es eine Rating Agentur ist, verarbeitbar wäre. Dieses Wissen ist notwendig in einem Individuum verkörpert. Es unterliegt damit zwar subjektiven Komponenten, die zu Fehlentscheidungen führen können (die Kreditentscheidung wird etwa davon beeinflusst, dass eine freundschaftliche Beziehung mit dem Kreditnehmer besteht, obwohl alle anderen Faktoren gegen die Kreditvergabe sprechen). Nichtsdestoweniger ist die Bankmitarbeiterin in einer informationstheoretisch überlegenen Position. Zudem wird sie lokal- oder regionalökonomische Gesichtspunkte stärker in ihrer Entscheidung gewichten als eine zentrale Rating-Agentur. Auch das ist legitim und volkswirtschaftlich sinnvoll. Die zentrale Rating-Agentur wird im Unterschied dazu eine standardisierte Bewertung vornehmen, die auf lokale Gesichtspunkte nicht in diesem Ausmaß eingeht, ja nicht eingehen kann. Ihre informationstheoretische Entscheidungsgrundlage wird schlechter sein, ihr formal elaboriertes Beurteilungsmodell aber nicht notwendigerweise besser.
Es erheben sich also triftige Zweifel, ob Rating Agenturen das am besten geeignete institutionelle Modell für die Bonitätsbeurteilung von Unternehmen sind. Aber was ist mit der Beurteilung von souveränen Schuldnern, also Staaten, die ja der aktuelle Anlass für die Kritik waren? Hier sei an die Kritik vonseiten keynesianischer Ökonomen wie Joseph Stiglitz zu Ende der 1990er Jahren erinnert. Damals wurde den Rating-Agenturen vorgeworfen, dass diese die Ratings für die von einer schweren Finanzkrise getroffenen asiatischen Länder zu spät herabgestuft hätten. Damit wäre ein unerwünschter prozyklischer Effekt eingetreten, der die Krise in diesen Ländern noch vertieft hätte. In der aktuellen Krise wurde den Rating-Agenturen nunmehr vorgeworfen, die Ratings für Griechenland et al. zu früh herabgestuft zu haben, und damit die Krise mitausgelöst zu haben. Offenbar gilt: egal, ob zu früh oder zu spät, die Krise wird durch das Agieren von Rating-Agenturen verstärkt. Wäre also im Umkehrschluss die richtige Vorgangsweise gewesen, die Ratings auch während der Krise nicht zu ändern? In der Tat wäre das im Hinblick auf die Lösung der Krise vorteilhaft gewesen, weil dadurch die Refinanzierungskosten der Staatsschuld für Griechenland et al. beherrschbar geblieben wären. Den spekulativen Attacken auf den Staatsbankrott wäre damit zumindest kein zusätzlicher Auftrieb gegeben worden. Auch das Hilfspaket von EU und IWF wäre in diesem Umfang und versehen mit den bekannten scharfen Auflagen nicht notwendig gewesen.
Gerade im Fall souveräner Schuldner spricht daher viel dafür, die Einschätzung der Bonität nicht Rating-Agenturen anzuvertrauen. Diese haben keine verlässlichen Modelle, die es erlauben würden, die Zahlungsfähigkeit von Staaten solide einzuschätzen. Jede Aktion einer Rating-Agentur kann hier mehr Schaden als Nutzen stiften. Stuft sie, wie ausgeführt, das Rating eines Staates frühzeitig herunter, verschärft sie die Krise, stuft sie zu spät herunter, vertieft sie die Krise, ändert sie trotz Krise ihr Rating gar nicht, macht sie sich in den Augen der Gläubiger unglaubwürdig, und damit überflüssig.
Der Glaube an die Kompetenz von Rating-Agenturen, eine „objektive“ Beurteilung abzugeben, hat viele wirtschaftliche Akteure dazu verleitet, sich eine eigenständige Einschätzung zu ersparen. Blindes Vertrauen ist aber selten ein guter Ratgeber. Was ist daher zu tun? Die erstbeste Lösung läge schlicht in der Abschaffung von Rating-Agenturen. Sie richten mehr Schaden als Nutzen an. Diese Forderung ist angesichts der großen Macht von Rating Agenturen und der vorherrschenden Interessenkollusion mit den Banken wohl nicht realisierbar. Daher wird über zweitbeste Lösungen nachzudenken sein. Dafür müsste in einem ersten Schritt die Macht der Rating-Agenturen geschwächt werden, indem ein öffentlicher Bankensektor aufgebaut wird, der Kreditvergaben nach anderen Kriterien als der kurzfristigen Zahlungsfähigkeit vergibt (z.B. dem gesellschaftlichen Nutzen einer Investition), und damit auch schlecht gerateten Unternehmen einen Zugang zu Kapital eröffnet. In einem zweiten Schritt müssten die bestehenden Rating-Agenturen unter öffentliche Kontrolle gebracht werden. Ihre Bewertungsgrundlagen müssten transparent gemacht werden, gesellschaftliche Kontrolle sollte durch die Besetzung der Entscheidungs- und Aufsichtsgremien mit akademischen ExpertInnen, VertreterInnen von Gewerkschaften und zivilgesellschaftlichen Organisationen (z.B. KonsumentInnen-Organisationen) ausgeübt werden. Nur unter diesen Prämissen macht der Aufbau einer europäischen Rating-Agentur Sinn. Schließlich sollten kleine und mittlere Unternehmen mit stark regionalwirtschaftlichem Bezug von einer Verpflichtung zu einem Rating explizit ausgenommen werden. Die vom Basel II – Regelwerk vorgesehene Verpflichtung, dass Banken Kredite an Unternehmen, die nicht über ein Rating verfügen, mit mehr Eigenkapital unterlegen müssen, erscheint daher ebenfalls nicht sinnvoll.
Rating Agenturen in ihrer derzeitigen Form sind nichts anderes als Ideologieapparate. Sie produzieren kein „objektives“ Wissen über die Zahlungsfähigkeit von Schuldnern. Vielmehr reproduzieren sie Beurteilungen auf Basis theoretisch einseitiger, von der Öffentlichkeit nicht überprüfbarer Modelle. Damit determinieren sie, wer zu welchen Konditionen Zugang zu Kapital bekommt und wer nicht. Es wird Zeit, dass sich die Öffentlichkeit dies nicht mehr länger gefallen lässt.