Staatstheorie – BEIGEWUM

Stichwort: Staatstheorie


Staatseuphorie ohne Strategie

April. 20th 2009 — 13:20

Zur Lage der Linken im Postneoliberalismus

Die aktu­el­le Wirt­schafts­kri­se hat auch unter den poli­tisch und öko­no­misch Herr­schen­den – wie bei­spiels­wei­se jüngst beim Welt­wirt­schafts­fo­rum in Davos – eine inten­si­ve Aus­ein­an­der­set­zung dar­über aus­ge­löst, was künf­tig ver­än­dert wer­den muss.

In der aktu­el­len Kri­se scheint es – zumin­dest auf den ers­ten Blick –, als wür­de das neo­li­be­ra­le Dog­ma eines Bes­se­ren belehrt. Aber auch wenn der­zeit Ban­ken ver­staat­licht und Vor­schlä­ge für eine Reregu­lie­rung der Finanz­märk­te dis­ku­tiert wer­den, so ist doch wei­ter­hin offen, inwie­weit damit ein Gestal­tungs­an­spruch staat­li­cher Poli­tik gegen die Inter­es­sen der star­ken Kapi­tal­grup­pen ein­her­geht. Denn es han­delt sich zuvor­derst – bei aller rui­nö­sen Kon­kur­renz – um eine Kri­sen­in­ter­ven­ti­on im Inter­es­se der domi­nan­ten Kräfte.

Im Grun­de geht es hier um die Neu­auf­la­ge eines keyne­sia­ni­schen Pro­gramms, bei dem der Staat kor­ri­gie­rend in öko­no­mi­sche Zyklen und die Macht des Kapi­tals ein­greift. Im Zuge der unter Lin­ken der­zeit gras­sie­ren­den Staats­eu­pho­rie sind Refle­xio­nen über die sich ver­än­dern­den For­men der Staats­in­ter­ven­ti­on seit den 70er Jah­ren – und beson­ders in der aktu­el­len Kri­se – aus­ge­spro­chen sel­ten anzu­tref­fen. Die Vor­schlä­ge der Kri­sen­be­ar­bei­tung blei­ben weit­ge­hend makro­öko­no­misch aus­ge­rich­tet. Letzt­lich ver­birgt sich hin­ter den meis­ten Dia­gno­sen eine dif­fu­se Hoff­nung auf die Ein­sichts­fä­hig­keit der poli­ti­schen und öko­no­mi­schen Eli­ten. Bei rea­lis­ti­scher Betrach­tung erweist sich die­se Hoff­nung jedoch als Illusion.

Nicht zufäl­lig kommt das Pro­blem der Hege­mo­nie in den meis­ten aktu­el­len Dia­gno­sen nicht vor. Kri­sen bedeu­ten nicht unbe­dingt eine Abkehr von der herr­schen­den Poli­tik, son­dern füh­ren oft zu deren gra­du­el­ler Erneue­rung und fes­ti­gen auf die­se Wei­se die zugrun­de lie­gen­den Herr­schafts­ver­hält­nis­se. Anto­nio Gram­sci nann­te das eine „pas­si­ve Revo­lu­ti­on“, in der Zustim­mung zur „gro­ßen Poli­tik“ und makro­öko­no­mi­schen Ent­wick­lung, aber auch hin­sicht­lich all­täg­li­cher Ori­en­tie­run­gen und Prak­ti­ken aus­ge­ar­bei­tet wird. Hier liegt denn auch der Kern des erfolg­ten neo­li­be­ra­len Gesell­schafts­um­baus. Er bestand ja nicht zuletzt dar­in, den Markt- und Kon­kur­renz­im­pe­ra­tiv tief in der Gesell­schaft, ja bis in die Sub­jek­te hin­ein zu ver­an­kern. Das ist mit der Kri­se nicht vorbei.

Der Staat ist aus herr­schen­der Per­spek­ti­ve teil­wei­se ein Opfer, vor allem jedoch ein Pro­blem­lö­ser, eine neu­tra­le Instanz und den gesell­schaft­li­chen All­ge­mein­in­ter­es­sen ver­pflich­tet. Der Staat soll’s rich­ten: Die­ses Ver­ständ­nis domi­niert der­zeit auch die Dis­kus­si­on um die Finanz­markt­kri­se. Dem­ge­gen­über ver­steht eine kri­ti­sche Ana­ly­se den Staat gera­de nicht als „neu­tra­le Instanz“, son­dern als sozia­les Ver­hält­nis oder genau­er: als insti­tu­tio­nell ver­dich­te­tes gesell­schaft­li­ches Kräf­te­ver­hält­nis, in dem die herr­schen­den Kräf­te domi­nie­ren und ihre Inter­es­sen leich­ter durch­set­zen kön­nen als die schwä­che­ren Akteure.

Der Staat, ins­be­son­de­re in den OECD-Län­dern, hat die Glo­ba­li­sie­rung kräf­tig vor­an­ge­trie­ben und wur­de zum „natio­na­len Wett­be­werbs­staat“ (Joa­chim Hirsch) transformiert.

Durch die Staats­in­ter­ven­ti­on wer­den Unter­neh­mens­ver­lus­te sozia­li­siert (Ban­ken­ret­tungs­schir­me), und die Kri­se selbst wird von mäch­ti­gen Kon­zer­nen dazu genutzt, geschwäch­te Kon­kur­ren­ten zu erwer­ben (bei­spiels­wei­se der Kauf der Dresd­ner Bank durch die Commerzbank).

Wäh­rend­des­sen gilt der Schutz der von Arbeits­lo­sig­keit Bedroh­ten (von sym­bo­lisch und für die herr­schen­de Poli­tik wich­ti­gen Kämp­fen wie jenen um Opel abge­se­hen) oder der im Zuge der Hypo­the­ken­kri­se ihre Häu­ser ver­lie­ren­den Men­schen als nachrangig.

Die kapi­ta­lis­ti­sche Ent­wick­lung pro­du­ziert jedoch nicht nur Kri­sen, son­dern auch ihre eige­nen Gegen­kräf­te in Form von Wider­stand und Alter­na­ti­ven. Die­se kön­nen reak­tio­när oder gar faschis­tisch sein, aber auch eman­zi­pa­to­risch und demokratisch.

Im Unter­schied zu den staats­zen­trier­ten Kri­sen­dia­gno­sen plä­die­re ich daher dafür, die unter­schied­li­chen Vor­schlä­ge und Stra­te­gien zur Kri­sen­be­ar­bei­tung mit dem Begriff des Post­neo­li­be­ra­lis­mus zu fas­sen. Anders als im Dis­kurs vom „Ende des Neo­li­be­ra­lis­mus“ und der „Rück­kehr des Staa­tes“ gera­ten auf die­se Wei­se die Brü­che, aber eben auch die Kon­ti­nui­tä­ten in den Blick. Kurz: Post­neo­li­be­ra­le Stra­te­gien bedeu­ten nicht per se eine Abkehr von neo­li­be­ra­ler Poli­tik; mit dem Begriff wer­den viel­mehr unter­schied­li­che Optio­nen der Kri­sen­be­ar­bei­tung in den Blick genom­men. Dies erlaubt eine prä­zi­se­re Ein­schät­zung der gesell­schaft­li­chen Kräf­te­ver­hält­nis­se, die sich in ein­zel­nen gesell­schaft­li­chen Kon­flikt­fel­dern durch­aus unter­schied­lich ausformen.

Aus eman­zi­pa­to­ri­scher Per­spek­ti­ve geht es dar­um, Ant­wor­ten auf die drän­gen­den Pro­ble­me wie sozia­le Spal­tung und Ver­ar­mung, Angst und die Pri­va­ti­sie­rung der Risi­ko­ab­si­che­rung, öko­lo­gi­sche Kri­se und Zunah­me der Gewalt zu fin­den. Gleich­zei­tig gilt es, die herr­schaft­li­chen Defi­ni­tio­nen der „drän­gen­den Pro­ble­me“ zurück­zu­wei­sen und zu ver­än­dern. Die Eng­füh­rung der meis­ten Miss­stän­de auf die aktu­el­le Finanz- und sich anbah­nen­de Wirt­schafts­kri­se ist pro­ble­ma­tisch, denn eine sol­che Reduk­ti­on der Ursa­chen ten­diert dazu, einen unde­mo­kra­ti­schen Eta­tis­mus zu begüns­ti­gen. Die­ser setzt die sozia­le Spal­tung fort bzw. ver­tieft sie wei­ter – nicht zuletzt auch dadurch, dass er die Kri­sen der Öko­lo­gie, der Inte­gra­ti­on, der Sicher­heit und der Demo­kra­tie für zweit­ran­gig erklärt.

Die­ses Pro­blem wird ana­ly­tisch dadurch gewis­ser­ma­ßen „ver­dop­pelt“, dass einer (guten) Real­öko­no­mie die aus dem Ruder gelau­fe­nen (schlech­ten) Finanz­märk­te gegen­über­ge­stellt wer­den, die es in Kom­bi­na­ti­on mit pro­gres­si­ver Ver­tei­lungs­po­li­tik zu „ent­schleu­ni­gen“ gel­te. Aber ist es denn über­haupt wün­schens­wert, rein makro­öko­no­misch die Wirt­schaft wie­der „anzu­kur­beln“, anstatt die aktu­el­len Mög­lich­kei­ten dafür zu nut­zen, eine qua­li­ta­tiv und von den kom­ple­xen Anreiz- und Bedürf­nis­struk­tu­ren her ganz ande­re Lebens­wei­se als die impe­ria­le durchzusetzen?

Für alle Kon­flikt­fel­der und umfas­sen­de gegen­he­ge­mo­nia­le Stra­te­gien gilt: Ent­schei­dend wird sein, ob die Macht der Kapi­tal- und Ver­mö­gens­be­sit­zer – samt ihrer poli­tisch-insti­tu­tio­nel­len, media­len und wis­sen­schaft­li­chen Absi­che­rung – wirk­lich in Fra­ge gestellt wer­den kann und ob ein Umbau der Pro­duk­ti­ons- und Lebens­wei­se akzep­tiert wird. Denn eines soll­te nicht über­se­hen wer­den: Der neo­li­be­ra­le Gesell­schafts­um­bau wur­de und wird auch des­halb breit akzep­tiert, weil er die impe­ria­le Lebens­wei­se der Bevöl­ke­rungs­mehr­heit in den Län­dern des glo­ba­len Nor­dens und der Mit­tel­klas­sen in den Län­dern des glo­ba­len Südens absichert.

In der lin­ken Dis­kus­si­on sind alter­na­ti­ve Ansät­ze kaum zu fin­den, wer­den die unter­schied­li­chen Kri­sen­di­men­sio­nen und Pro­blem­ebe­nen bis heu­te nicht zusam­men­ge­dacht. So wird der Wider­spruch zwi­schen kurz- und mit­tel­fris­ti­gen Kri­sen­in­ter­ven­tio­nen und dem gleich­zei­tig not­wen­di­gen Umbau der Ener­gie- und Res­sour­cen­ba­sis des glo­ba­len Nor­dens nur sel­ten benannt. Dies könn­te in den kom­men­den Jah­ren das in vie­ler­lei Hin­sicht pro­ble­ma­ti­sche Pro­jekt eines „grü­nen New Deal“ zu der ver­meint­lich lin­ken sozi­al-öko­lo­gi­schen „Alter­na­ti­ve“ machen. Hier liegt eine gro­ße intel­lek­tu­el­le, stra­te­gi­sche und poli­ti­sche Aufgabe.

Der weit­rei­chen­den Ent­po­li­ti­sie­rung muss mit einer gesell­schaft­li­chen Mobi­li­sie­rung ent­ge­gen­ge­ar­bei­tet wer­den, deren Vor­aus­set­zung es ist, die „Par­zel­lie­rung“ der gesell­schaft­li­chen Pro­ble­me in Poli­tik­be­rei­che und ent­spre­chen­de Lösungs­an­sät­ze aufzuheben.

(Eine Lang­ver­si­on des Bei­trags erschien in „Blät­ter für deut­sche und inter­na­tio­na­le Poli­tik“, April 2009).

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