(Gesellschafts-)kritische Ökonomie in Österreich: Wandel der institutionellen Verankerungen
Editorial
Auf der Suche nach dem verlorenen Dissens
José Luis Fiori (1995)
Derzeit findet ein Generationswechsel in der (gesellschafts-)kritischen Ökonomie in Österreich statt. Die Generation, die durch die soziale und inhaltliche Öffnung des Bildungssystems in den Kreisky-Jahren an die Universitäten kam, geht in Pension. Diese Generation profitierte noch von der Öffnung und Demokratisierung der Universitäten in den Kreisky-Jahren, musste sich dann aber mit den erneuten sozialen und vielfach auch erneuten inhaltlichen Einengungen sowie der Entdemokratisierung der Hochschulen auseinandersetzen. Diese Prozesse setzten die (gesellschafts-)kritische Ökonomie auch institutionell unter Druck. Besonders deutlich wurde dies am Department Volkswirtschaft an der Wirtschaftsuniversität Wien (WU Wien), wo die Auflösung des Instituts für Heterodoxe Ökonomie und die Pensionierung der festangestellten ÖkonomInnen Hand in Hand gingen.
Diese Prozesse sind Anlass nicht für ein Requiem, sondern für eine Bestandsaufnahme der (gesellschafts-)kritischen Ökonomie in Österreich. Wir schließen hier an die Kurswechsel-Nummer 4/2006 zur „Aktualität und Tradition gesellschaftskritischer Ökonomie in Österreich“ an. „Gesellschaftskritische Ökonomie analysiert Ökonomie aus einer emanzipatorischen Perspektive“, heißt es in der damaligen Definition von Joachim Becker und Martin Schürz (2006: 13). „Sie setzt an den Spannungen, Widersprüchen, Paradoxien der (kapitalistischen) wirtschaftlichen Verhältnisse an. Diese Verhältnisse hält sie grundsätzlich für veränderbar. Der Horizont für Veränderung kann sich auf Veränderungen innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise beschränken (z.B. konsequenter Keynesianismus) oder diese, zumindest potenziell, überschreiten (z.B. marxistische Sichtweisen). Damit erlaubt gesellschaftskritische Ökonomie, Gesellschaftsveränderungen zumindest zu denken.“ Gesellschaft, aber auch das Verhältnis Mensch-Natur wird in den verschiedenen Ansätzen in unterschiedlichem Ausmaß explizit theoretisiert. Dasselbe gilt für (historisch-soziale) Zeit und Raum.
Dieses Grundverständnis gesellschaftskritischer Ökonomie scheint auch für die aktuelle Kurswechsel-Nummer weiterhin tragfähig. Die Landkarte der unterschiedlichen theoretischen Strömungen und deren institutionellen Verankerungen hat sich jedoch verändert. In dieser Nummer sollen vor allem die sich verändernden universitätspolitischen und -rechtlichen Rahmenbedingungen und die sich verändernden institutionellen Verankerungen der unterschiedlichen Strömungen seit den späten 1980er Jahren im Mittelpunkt der Analyse stehen. Dabei wird vor allem der Überblick zur Präsenz heterodoxer Ökonomie an österreichischen Universitäten und Fachhochschulen von Elisabeth Springler (2016) in der Kurswechsel-Nummer zu den Perspektiven pluraler Ökonomie aktualisiert und deutlich erweitert.
Polit-ökonomischer Kontext
Auf das wirtschaftswissenschaftliche Feld wirken verschiedene Faktoren ein. Unter den Sozialwissenschaften hat die Ökonomie insofern einen besonderen Status, als sie sich mit dem Kernbereich kapitalistisch-bürgerlicher Gesellschaften – dem Akkumulationsprozess – auseinandersetzt. Damit ist der Kern dominanter gesellschaftlicher Interessen angesprochen. Deren Interessenlagen sind hierbei nicht unbedingt einheitlich und widerspruchsfrei. Einerseits ist ihnen an der Legitimität der kapitalistischen Produktionsweise und ihren jeweils historisch dominanten Ausprägungen gelegen. Andererseits ist kapitalistische Akkumulation (und die damit verbundene soziale Reproduktion) nicht störungsfrei. Speziell in Krisen gibt es einen Bedarf an situationsadäquaten Analysen. Krisen stellen – aus wirtschaftspolitischen Anforderungen heraus – potenziell Momente der Öffnung für kritischere Ansätze dar (vgl. z.B. Lebaron 2010: 16 f.). In Krisen- und Umbruchsituationen können bisherige dominante universitär-akademische Theorieorientierungen und Reputationskriterien aufgrund von veränderten gesellschaftlichen und politischen Anforderungen unter Druck geraten (vgl. Weber 2005). Oft suchen VertreterInnen der bislang dominanten Strömung die Herausforderung durch kritische Alternativkonzepte in der Krise einzugrenzen und möglicherweise Teilelemente kritischer Analysen in ihre Ansätze zu integrieren. Diese Auseinandersetzungen laufen unter spezifischen institutionellen Bedingungen ab, deren bisherigen orientierenden Koordinaten in Krisensituation auch unter Druck geraten können.
Das polit-ökonomische Umfeld hat sich in Österreich in den letzten 35–40 Jahren sehr stark verändert. Als Folge der Krise in den 1970er Jahren ist es international zur verstärkten Internationalisierung der Produktion und zur Finanzialisierung gekommen. Beide Prozesse haben sich stark auf den Europäischen Integrationsprozess ausgewirkt. Bereits in den Kreisky-Jahren ist es zu einer deutlichen Internationalisierung der österreichischen Wirtschaft, vor allem in Form einer Anbindung an die deutsche Exportindustrie, gekommen. Mit dem Binnenmarktprojekt der EU aus dem Jahr 1986 gewann die Beitrittsdebatte in Österreich an Schwung. Mit der EU im Rücken expandierten ihrerseits österreichische Unternehmen Richtung Osten. Besonders stark gliederten sich österreichische Banken durch ihre Geschäfte im östlichen Teil Europas in die Finanzialisierungsdynamiken ein.
Allerdings waren die Akkumulationsdynamiken – speziell im Bereich der Finanzialisierung – stark krisenbehaftet. Erst in den Peripherien, dann auch im Zentrum kam es zu Finanzkrisen. Die verschärfte internationale Konkurrenz ist in zunehmende geopolitische Konkurrenz umgeschlagen. Damit kommt es nach einer langen Phase der Globalisierung zu Tendenzen einer geo-politisch grundierten selektiven und partiellen Deglobalisierung. Der ökologische destruktive Charakter der kapitalistischen Produktionsweise wurde in Form der Klimaerhitzung, des Verlustes an Artenvielfalt etc. immer deutlicher.
Ideologisch war seit den späten 1970er Jahren eine international ungleicher Ausbreitungsprozess neoliberaler Denkfiguren und Rezepte festzustellen. Die Wirkungsmacht des Neoliberalismus ist angesichts der Krisen zwar erodiert, sie ist aber nicht geschwunden, wie Perry Anderson (2025: 30 ff.) in seinem jüngsten Essay zu „Idéés-forces“ konstatiert.
Neo-liberaler Universitätsumbau, Exzellenzkriterien, internationalisiertes Mainstreaming
Neo-liberalen Rezepten gehorchte nicht nur der Staatsumbau mit einer Entparlamentarisierung und Technokratisierung der Politik. Die technokratischen Regierungsführungs und Lenkungsweisen finden ihren Niederschlag im Setzen quantifizierter Normen – einer „Gouvernance über Zahlen“ (Supiot 2015). Letzteres gilt speziell für zentrale Politikbereiche in der EU. Die Formen neoliberaler Staatsreform finden sich auch im korrespondierenden Umbau der Universitäten. Auf EU-Ebene war der sogenannte Bologna-Prozess, der 1999 lanciert wurde, ein maßgeblicher Meilenstein beim Umbau der europäischen Universitätslandschaft. Er brachte eine Vereinheitlichung der grundlegenden Studienorganisation, aber auch der begleitenden Bewertungssysteme (der Schaffung des European Credit Transfer and Accumulation System, ECTS). In Österreich erfolgte eine maßgebliche Veränderung der Finanzierung und Organisation der Universitäten durch das Universitätsgesetz von 2002, das – ähnlich wie in anderen europäischen Ländern – eine „Autonomisierung“ der Universitäten, eine Stärkung der universitären Exekutivstrukturen (vor allem des Rektorates) sowie Marginalisierung von sogenanntem Mittelbau und Studierenden in den Entscheidungsstrukturengen brachte. Das Organisationsmodell orientierte sich zunehmend an Unternehmensstrukturen. Es erfolgte eine Ausrichtung auf vermeintlichen Exzellenzkriterien (zu Österreich im internationalen Vergleich siehe Hark/Hofbauer 2023). Mit den Intentionen und Folgen dieses Gesetzes sowie der Exzellenzorientierung für die wissenschaftlichen Produktionsbedingungen und wissenschaftliche Vielfalt setzen sich Johanna Hofbauer, Katharina Kreissl und Stephan Pühringer in ihrem Beitrag auseinander. Er arbeitet auf, wie sich die universitätsrechtlichen und -politischen Bedingungen für WissenschaftlerInnen und gerade auch VertreterInnen von kritischen Strömungen verändert haben.
Mit den Universitätsreformen ging eine zunehmende Normierung wissenschaftlicher Leistungen einher. Normsetzung ist immer ein politischer Prozess. Mit der Neoliberalisierung der Universitäten wurde die Normsetzung zunehmend formalisiert, beispielsweise über Zeitschriftenrankings bzw. die Definition von Karrierekriterien. Hier liegt die Definitionsmacht stark bei Mainstream-ÖkonomInnen (vgl. Dürrmeier/Euler 2013: 29 f., Scheuch 2016 Boyer 2021: 77, 89). Entsprechend sind für Universitätskarrieren zentrale Mainstream-Zeitschriften, die für Positionen heterodoxer ÖkonomInnen nicht offen sind, besonders hoch eingestuft (vgl. Dobusch/Kapeller 2011: 392 f., 396 ff.). Diese Normsetzung wie auch starke Netzwerkbildungen des Mainstreams drängen kritische Ökonomieansätze sehr stark an den Rand (Scheuch 2016: 33 ff.). Global hat sich der ökonomische wissenschaftliche Mainstream nach rechts verschoben, wobei die akademische US-Ökonomie immer stärker normsetzend wurde (vgl. Fourcarde 2006). Dem neoklassisch geprägten Grundkonsens des Mainstreams liegt die „Weltanschauung“ („vision du monde“), „der Markt“ sei „die am wenigsten schlechte der der Formen wirtschaftlicher Koordination“ (Boyer 2021: 80), zugrunde. Weiters ist für den Mainstream eine sehr avancierte Form der Mathematisierung prägend. Theoretische Zugänge, die sich mit einer Formalisierung nicht zugänglichen Problematiken beschäftigen, werden ausgegrenzt (Boyer 2021: 75). Keynesianische Einsprengsel in ein neoklassisch geprägtes Gedankengut wurden weiter marginalisiert. War in den 1960er und frühen 1970er Jahren die Mathematik in der Ökonomie auf eine keynesianische Globalsteuerung gerichtet, so traten mit Finanzialisierung und Internationalisierung Finanzmathematik und die Lieferung von Begründungen für weitgehende Liberalisierungsmaßnahmen in den Vordergrund (Boyer 2021: 72 f.). Diese Verschiebung spiegelte Veränderungen in der ökonomischen und politischen Interessenkonstellation wider. Sowohl zur politischen Sphäre als auch zu Wirtschaftsverbänden oder direkt zu Firmen unterhält ein Teil der akademischen ÖkonomInnen auch direkte Beziehungen – zum Beispiel über Beratungsdienste (Boyer 2021: 77). Zu den Dynamiken von Finanzkrisen hatte auch der veränderte Mainstream nichts zu sagen (Boyer 2021: 51 f.).
Mit starkem wissenschaftspolitischem Rückenwind exportierten die USA im Feld der akademischen Ökonomie, aber auch der wirtschaftspolitischen Beratung ihre Konzepte und Standards. In anderen ökonomischen Zentren, wie Japan, Frankreich, Deutschland, Österreich oder Italien, mit partiell autonomen wirtschaftspolitischen Interessen, eigenen Formen der Regulation und Wissenschaftsorganisation, wurde der US-Einfluss erst mit zeitlicher Verzögerung dominant (vgl. Fourcarde 2006). Das galt auch für Österreich. Mit dem Verlust nationalstaatlicher wirtschaftlicher und politischer Autonomie ging auch der Verlust an Autonomie in der Normsetzung im Wissenschaftsbereich einher, speziell in der Ökonomie mit ihrem speziellen Status in den Sozialwissenschaften. Dies drückt sich auch in der Wissenschaftssprache aus. Dominant wurde zunehmend das Englische (vgl. Nature Human Behaviour 2023: 1019). Dies diskriminiert nicht nur die Nicht-MuttersprachlerInnen (vgl. Nature Human Behaviour 2023), sondern drängt auch regionale oder nationale Problematiken an den Rand. Denn über solche Problematiken wird eher in nationalen Sprachen geschrieben. Das ist aber der Karriere nicht förderlich. Die einflussreichsten Zitationsdatenbanken erfassen fast ausschließlich englischsprachige Zeitschriften. „Wer seine wissenschaftliche Karriere nicht gefährden will,“ so Wolfgang Krischke (2025: N 4), „publiziert wohlweislich in dieser Sprache.“ Einige kritische Strömungen in der (politischen) Ökonomie, wie lateinamerikanischer Strukturalismus, Dependenztheorie oder Regulationstheorie, haben ihre Ursprünge und Schwerpunkte außerhalb des angelsächsischen Sprachraums. Mit der Sprachbarriere wurden für sie zusätzliche Hürden geschaffen. Sie sind auch besonders stark zu anderen Sozialwissenschaften hin geöffnet. Die Ökonomie als Disziplin zeichnet sich in den Zitationen jedoch unter den Sozialwissenschaften durch besonders geringe Offenheit gegenüber anderen Disziplinen aus (van Noorden 2015: 307, Abb. 3). Auch das schafft Zusatzbarrieren für bestimmte Theorieströmungen. Gleichzeitig ist interdisziplinäre Offenheit für bestimmte Fragestellungen unerlässlich. Das gilt speziell für ökologische Fragestellungen – und damit für zentrale Fragestellungen der Ökologischen Ökonomie – die mit der massiven Verschärfung ökologischer Probleme stark an Dringlichkeit gewonnen haben.
Bestandsaufnahme für Österreich
Mithin birgt das institutionelle Umfeld für die unterschiedlichen Strömungen – bei allen regulativen Gemeinsamkeiten – auch spezifisch nuancierte Schwierigkeiten. Dieses Heft entwickelt eine Landkarte der wechselnden institutionellen Verankerung sowie der sie beeinflussenden Faktoren für (gesellschafts-)kritische Ökonomieströmungen in Österreich. Es analysiert die postkeynesianische, die evolutionäre, die ökologische und feministische Ökonomie, die Regulationstheorie und die kritische Entwicklungsforschung. Gemeinsam ist diesen Ansätzen, dass sie sich mit Krisen und Umbrüchen auseinandersetzen. Einen kompletten Überblick kann das Heft hierbei allerdings nicht leisten. Teilweise waren kritische Ansätze auch nur durch Einzelpersonen an Institutionen vertreten.
Die Beiträge beginnen mit einer knappen Charakterisierung der Theorie und analysieren dann die Entwicklung der institutionellen Verankerungen im Lichte des sich verändernden politischen, juristischen und institutionellen Umfeldes. Hierbei geht es speziell um die Verankerung an Universitäten sowie Fachhochschulen, die nicht nur für die Forschung, sondern auch die Ausbildung besonders relevant sind, aber auch außeruniversitäre Institutionen werden diskutiert. Hierbei werden auch inhaltliche Schwerpunktsetzungen in der Forschung, aber auch speziell Akzentsetzung in der Lehre bzw. der Erstellung von Lehrmaterialien herausgearbeitet. Eine wichtige Form der Vernetzung stellen Assoziationen kritischer ÖkonomInnen und WissenschaftlerInnen dar. Auch auf sie wird in den Einzelbeiträgen eingegangen. Im letzten Beitrag zur Entwicklungsforschung steht eine solche Assoziation, der Mattersburger Kreis für Entwicklungspolitik an den österreichischen Universitäten, sogar im Mittelpunkt.
Der Postkeynesianismus ist eine auch wirtschaftspolitisch besonders wichtige kritische theoretische Strömung. Seine Entwicklung in Österreich zeichnen Quirin Dammerer, Andreas Maschke und Engelbert Stockhammer nach. Nach dem 2. Weltkrieg wurde der Keynesianismus zunächst – teils durch nach Österreich zurückkehrende Exilanten – an
Instituten der angewandten Wirtschaftsforschung etabliert (vgl. Stockhammer et al. 2025: 2). Ein erster universitärer Anlaufpunkt wurde in den 1970er Jahren die Johannes Kepler Universität (JKU) in Linz. Mit einem Generationswechsel verlagerte sich der Schwerpunkt des österreichischen Postkeynesianismus nach Wien. Universitär wurde hier in den frühen 2000er Jahren das Department für Volkswirtschaft der WU Wien, wo es eine breit gefächerte Gruppe heterodoxer ÖkonomInnen gab, zum Zentrum postkeynesianischer Forschung und Lehre. Aus Sicht von Dammerer, Maschke und Stockhammer führten drei Faktoren maßgeblich zu einem Ende der postkeynesianischen Blütezeit an der WU Wien: Das Universitätsgesetz von 2002 mit der befristeten Vertragsstruktur setzte universitären Karrieren – zumindest an der WU Wien – selbst ein Ende, mit Pensionierungen auf Schlüsselposten veränderten sich die Machtverhältnisse am Department. Die Definition von Karrierekriterien entsprechend den nun zunehmend dominanten Mainstream-Kräften marginalisierte die heterodoxe Forschung. Es kam zur Abwanderung ins Ausland, zur Verlagerung postkeynesianischer Forschung und Lehre in sozioökonomische Departments (WU Wien, im deutschsprachigen Raum auch an der Universität Duisburg-Essen), Fachhochschulen sowie in Forschungsinstitutionen oder Interessenorganisationen. „Etwa seit dem Jahr 2010 sind keine PostkeynesianerInnen mehr an volkswirtschaftlichen Departments in österreichischen Universitäten zu finden“, resümieren Dammerer, Maschke und Stockhammer. Gegenläufig zu diesen Entwicklungen im akademischen Feld steht aktuell an der Spitze des Finanzministeriums mit Markus Marterbauer ein Ökonom, der ursprünglich aus den Reihen der postkeynesianischen ÖkonomInnen der WU Wien stammt. Allerdings zeigt diese Ministerernennung keinen breiten Trend einer wirtschaftspolitischen Abkehr von einer Mainstreamorientierung der Wirtschaftspolitik ab. Trotzdem wird deutlich, dass akademisch-universitäre und politische Dynamiken nicht unbedingt gleichgerichtet sein müssen.
Die evolutionäre Ökonomie fand in Österreich in den 1980er Jahren zunehmend Eingang in den ökonomischen Diskurs. Andreas Resch und Wolfgang Polt arbeiten heraus, dass die evolutionäre Ökonomie in Österreich im Vergleich zu anderen Ländern eine vergleichsweise schwache institutionelle Verankerung erfuhr. Thematisch wurde sie am ehesten in der Technologie- und Innovationsforschung aufgegriffen. Mit evolutionären Ansätzen arbeiteten ÖkonomInnen vor allem an Institutionen der außeruniversitären Forschung, wie dem WIFO, dem Austrian Institute of Technology und Joanneum Research.
Die institutionell breiteste Verankerung kritischer Ökonomieansätze weist in Österreich derzeit die Ökologische Ökonomie auf, wie der Beitrag von Michael Soder deutlich macht. Ökologische Fragestellungen fanden in den 1980er Jahren Eingang in die wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Forschung. Die Debatten waren, wie Soder hervorhebt, stark durch Umweltkrisen, Anti-Atomkraftbewegung und wachstumskritische Diskurse beeinflusst. Sehr deutlich wird in Soders Beitrag, dass die ökologische Ökonomie stark in interdisziplinären Kontexten institutionell verankert wurde. Zentren der Ökologischen Ökonomie sind speziell in Wien und Graz, aber auch in Linz zu finden. Michael Soder resümiert: „An vielen Universitätsstandorten existieren heute strukturell gut verankerte Forschungsgruppen und Studienangebote, die sich explizit an den Prinzipien der ökologischen Ökonomie orientieren.“ Die Strömung hat auch eine relativ starke politische Relevanz, wenngleich wirtschafts- wie klimapolitisch nach wie vor eine starke Mainstream- und ziemlich einseitige Wachstumsorientierung unverkennbar ist.
Feministische Fragestellungen wurden in der Ökonomie später als in anderen Sozialwissenschaften etabliert, wie Magdalena Maad, Katharina Mader und Jana Schultheiß in ihrem Beitrag zur Feministischen Ökonomie festhalten. Eine zunächst zaghafte Etablierung erfolgte in den 1990er Jahren vor allem auf die Initiative einzelner ForscherInnen. Relevant waren hierbei vor allem die WU Wien, die JKU und die Universität Graz. Insgesamt hing die institutionelle Verankerung tendenziell an wenigen Schlüsselpersonen. Am breitesten waren sie zeitweilig im Kontext der breit gefächerten heterodoxen Präsenz am Department der Wirtschaftsuniversität Wien. Die dortige Verankerung fand durch die die institutionellen Verschiebungen mit der Pensionierung von Schlüsselpersonen ein Ende. Derzeit ist nur mehr eine explizite Verankerung an der Universität Graz gegeben. Maad, Mader und Schultheiß machen deutlich, dass eine verfestige Dominanz von Männern auf den gehobenen Karrierepositionen in Volkswirtschaftsdepartments der Verbreitung feministischer Ökonomie mit ihren gesellschaftskritischen Ansätzen nicht förderlich gewesen ist. Geschlechterbezogene Ansätze finden in die Volkswirtschaftsdepartments noch am ehesten in den politisch deutlich weniger profilierten Konzepten von Gender Economics Eingang. Starke außeruniversitäre Aktivitäten feministischer ÖkonomInnen kontrastieren mit der prekären universitären Verankerung.
Die Regulationstheorie ist ein ursprünglich aus Frankreich und der marxistischen Diskussion stammender Ansatz der politischen Ökonomie. Er bietet gute Ansatzpunkte für anderen sozialwissenschaftliche Disziplinen. Während er in Frankreich bei den ÖkonomInnen eher in eine institutionalistische Richtung weiter entwickelt wurde, griffen SozialwissenschaftlerInnen anderer Disziplinen speziell im deutschen und angelsächsischen Sprachraum eher die ursprünglichen marxistisch geprägten Konzepte mittlerer Abstraktion auf. Wie Joachim Becker deutlich macht, wurde in Österreich in den 1990er Jahren die Regulationstheorie in verschiedenen Disziplinen rezipiert. Es erfolgte parallel eine Verankerung in unterschiedlichen disziplinären Zusammenhängen und verschiedenen Universitären. Diese Verankerung hing (oder hängt) oft auch hier an einigen Schlüsselpersonen. Wie die meisten anderen (gesellschafts-)kritischen Ökonomieströmungen war auch die Regulationstheorie Teil des breiten heterodoxen Theorienagebots am Volkswirtschaftsdepartment der WU Wien – und findet aufgrund der institutionellen Machtverschiebungen und einer anstehenden Pensionierung dort ebenfalls ein Ende. Weiterhin ist sie hingegen am Sozioökonomie-Department der WU Wien, aber auch an anderen sozialwissenschaftlichen Universitätsinstituten in Wien, Linz und Salzburg vertreten. Stärken der regulationistisch arbeitenden WissenschaftlerInnen sind ihre ausgeprägte interdisziplinäre Zusammenarbeit und der polyzentrische Charakter ihrer Verankerung. Sichtbarkeit schaffen auch die Aktivitäten über den engen akademischen Raum hinaus.
Mit der institutionellen Verankerung der kritischen Entwicklungsforschung setzen sich Karin Fischer und Johannes Jäger auseinander. Für die Etablierung kritischer sozialwissenschaftlicher Entwicklungsforschung spielte der 1981 gegründete Mattersburger Kreis für Entwicklungspolitik an den österreichischen Universitäten eine Schlüsselrolle. Einerseits schuf er eine institutionalisierte Vernetzung der in diesem Feld tätigen WissenschaftlerInnen, andererseits bot er die Infrastruktur für die Herausgabe des Journals für Entwicklungspolitik, mehrerer Buchreihen sowie auch andere Aktivitäten. „Ohne die Mitglieder des Mattersburger Kreises hätte auch das Studium und später auch das Institut für internationale Entwicklung nicht etabliert werden können“, halten Fischer und Jäger fest. Der Mattersburger Kreis ist auch ein Bezugspunkt für internationale Kontakte. Nicht zuletzt mit dem Paulo Freire Zentrum wirkt er bewusst „über den sprichwörtlichen ‚Elfenbeinturm‘ der Universitäten hinaus“, so Fischer und Jäger. Besonders stark hat sich der Mattersburger Kreis auch bei der Erstellung von einführenden, studienbegleitenden Büchern engagiert.
Als örtliche Zentren der institutionellen Verankerung (gesellschafts-)kritischer Ökonomie können Wien, Linz und Graz ausgemacht werden. Die Institutionen der Verankerung haben sich seit den frühen 1990er Jahren gewandelt, auch hat sich die institutionelle Verankerung der verschiedenen theoretischen Strömungen unterschiedlich entwickelt. Den stärksten Positionsverlust an universitären Volkswirtschaftsdepartments hat die postkeynesianische Strömung erlitten. Nachdem sie dort über ca. 50 Jahre institutionell ziemlich gut verankert war, hat sie diese Verankerung in den 2000er Jahren verloren. Allerdings ist sie im Bereich der Sozio-Ökonomie noch universitär vertreten. Bei anderen kritischen Theoriezugängen war die Verankerung in den universitären Volkswirtschaftsdepartments nie so stark wie beim Postkeynesianismus. Auch sie haben
an Volkswirtschaftsdepartments an Positionen eingebüßt. Besser stellen sich tendenziell Verankerungen an Sozioökonomie- und anderen sozialwissenschaftlichen Departments dar. Am breitesten ist derzeit die Verankerung der ökologischen Ökonomie.
Somit haben sich volkswirtschaftliche Departments als besonders schwieriges Terrain erwiesen. Dort hat die Kombination von Veränderung des rechtlichen Rahmens durch das Universitätsgesetz von 2002 mit der Prekarisierung von Universitätskarrieren und Entdemokratisierung der Universitäten, Verschiebungen der Machtverhältnisse auf Departmentebene und die damit verbundene Einengung der Karrierekriterien als besonders beschränkend herausgestellt. Die breite heterodoxe Präsenz am Department für Volkswirtschaft der WU Wien ging so – trotz systematischer Bemühungen um deren Erhalt seitens der VertreterInnen kritischer Ökonomieschulen – verloren. Dies ist als ein strategischer Verlust einzuschätzen, handelte es sich doch um einen von ganz wenigen Ankerpunkten einer Vielfalt kritischer Ökonomieansätze an volkswirtschaftlichen Departments im deutschen Sprachraum überhaupt. Günstiger stellt sich das Terrain in sozioökonomischen und anderen sozialwissenschaftlichen Departments (oder Instituten) dar, in denen die Karrierekriterien nicht so stark verengt sind. Prekarität der Beschäftigungsverhältnisse und metrifizierte Karrierekriterien wirken sich allerdings auch dort negativ aus. Die oft extremen Einengungen in den Volkswirtschaftsdepartment haben zu einem gewissen Exodus (gesellschafts-)kritischer ÖkonomInnen in sozioökonomische und auch andere sozialwissenschaftliche Departments geführt. Die Verankerung in der Politikwissenschaft und Soziologie ist primär für jene kritischen ÖkonomInnen möglich, die explizit gesellschaftstheoretisch grundierte Ansätze (wie Feminismus, Regulations- oder Dependenztheorie) vertreten.
Kritische und interdisziplinäre Zugänge zur Ökonomie haben es auch in die Curricula für die LehrerInnenausbildung geschafft, wenngleich der Bereich der Wirtschaftsbildung hart umkämpft ist (vgl. Kurswechsel 1/2024 zu „Kritischer Wirtschaftsbildung“).
Handlungsoptionen
(Gesellschafts-)kritische ÖkonomInnen sehen sich mithin mit einem schwierigen Umfeld konfrontiert, speziell im disziplinären Feld der Ökonomie. Soweit möglich, sollte versucht werden, hier Positionen zu halten. Aussichtsreicher erscheint es jedoch, auf den Ausbau sozioökonomischer Departments oder Institute mit einer stärker interdisziplinären Orientierung zu setzen.
Aber auch breitere institutionelle Veränderungen sind nötig. Eine tiefgreifende Re-Demokratisierung der Universitäten – gerade auch auf Ebene dezentraler Einheiten – wäre einer größeren Pluralität förderlich. Die Prekarisierung der universitären Beschäftigungsverhältnisse führt nicht nur zu größerer sozialer Selektivität, sondern auch zu Konformitätsdruck. Es gibt in verschiedenen Ländern Initiativen zum Abbau von Prekarität an den Universitäten. In Österreich ist dies das Netzwerk Unterbau Wissenschaft (NUWiss). Auch bei der zuständigen Gewerkschaft Öffentlicher Dienst (GÖD) hat die Sensibilität für diese Frage zugenommen. Die Problematik hat inzwischen auch öffentliche und politische Sichtbarkeit erlangt.
Wie Johanna Hofbauer, Katharina Kreissl und Stephan Pühringer in ihrem Beitrag deutlich machen, wird auch in manchen Wissenschaftsorganisationen die Metrisierung inzwischen kritischer gesehen. Diese Debatten wären zu vertiefen und stärker in der der Öffentlichkeit zu verankern. Es ist hier auch der politische Charakter der Definition von Exzellenz- und Karrierekriterien speziell in den Sozialwissenschaften, zu denen auch die Ökonomie zählt, herauszuarbeiten. Deutlich zu machen wäre auch, dass die Metrisierung und deren Kriterien (einschließlich der einseitigen Fixierung auf englischsprachige Zeitschriften) in den Sozialwissenschaften auch vielfach gegen deren gesellschaftliche Relevanz gerichtet ist. Über die Frage der gesellschaftlichen Relevanz sind – angesichts auch breiter wissenschaftsfeindlicher Tendenzen (speziell auf der harten Rechten) – auch neue Bündniskonstellationen denkbar.
Anderson, Perry (2025): Idéés-forces. In: New Left Review, Nr. 151, 19–34
Becker, Joachim/Schürz, Martin (2006): Konturen einer gesellschaftskritischen Ökonomie. In: Kurswechsel, Nr. 4, 7–17
Boyer, Robert (2021): Une discipline sans réflexivité peut-elle être une sience? Épistémologie de l’économie. Paris
Dobusch, Leonhard/Kapeller, Jakob (2011): Wirtschaft, Wissenschaft, Politik: Die sozialwissenschaftlichen Bedingtheiten linker Reformpolitik. In: PROKLA, 41(3), 389–404
Dürrmeier, Thomas/Euler, Johannes (2013): Warum in der Wirtschaftswissenschaft keine Pluralität entsteht. Eine Zwischenbilanz nach zehn Jahren Real World Economics in Deutschland. In: Kurswechsel, Nr. 1, 24–40
Fiori, José Luis (1995): Em busca do dissenso perdido. Rio de Janeiro Fourcarde, Marion (2006): The Construction of a Global Profession: The Transnationalizaton of Economics. In: American Journal of Sociology, 112(1), 145–194
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Lebaron, Frédéric (2010): La crise de la croyance économique. Bellecombe-en-Bauges
Nature Human Behaviour (2023): Scientific publishing has a language problem. In: Nature Human Behaviour, 7, 1019–1020
Scheuch, Christoph (2016): Was ist Forschung wert? Über die Quantifizierung akademischen Erfolgs. In: Kurswechsel, Nr. 1, 30–38
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Stockhammer, Engelbert/Dammerer, Quirin/Maschke, Andreas (2025): Between Academia and Economic Policy: The Rise and Decline of Post-Keynesian Economics in Austria. In: Review of Political Economy, 1–27
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