Zeit und Wohlstand: Welche Zeitpolitik brauchen wir jetzt?
Ein Tag hat für jede und jeden 24 Stunden. Doch ist – wie etwa Einkommen und Vermögen – auch die Zeit ungleich verteilt und so sind die 24 Stunden für verschiedene Menschen unterschiedlich stark verdichtet. Die individuelle Zeitverwendung ist abhängig von Faktoren, die häufig strukturell bedingt oder gesellschaftlich ausverhandelt werden. In der Erwerbsarbeit steigt der Zeitdruck, die öffentliche Infrastruktur und Verkehrsangebote entscheiden über Pendelzeiten. Öffnungszeiten von sozialen Dienstleistungen bis hin zu Wartezeiten an Ampeln müssen lokal ausverhandelt werden. Die unbezahlte Sorge- und Hausarbeit in Haushalten ist höchst ungleich zwischen den Geschlechtern verteilt. Frauen leisten mehr unbezahlte Arbeit als Männer. An dieser konservativen Norm hat sich in Österreich in den letzten Jahren wenig geändert. Als eine Folge davon arbeiten viele Frauen in Teilzeiterwerbsbeschäftigungen, was sich – neben anderen Faktoren der Lohndiskriminierung – in Gender Pay Gaps und Gender Pension Gaps niederschlägt.
Hinzu kommt, dass sozioökonomische Faktoren maßgeblich über das subjektive Erleben und die tatsächliche Verfügbarkeit von Zeit bestimmen. Gesundheitliche Einschränkungen verlangen ein anderes Tempo im Alltag. Wer weniger Einkommen hat und von prekären Arbeitsverhältnissen betroffen ist, hat oft weniger Autonomie über die eigene Zeitverwendung. Mit einem höheren Einkommen können zeitintensive Tätigkeiten auch ausgelagert werden. Das Essen wird dann von einem Lieferdienst gebracht, statt dass man selbst einkauft und kocht, die Kinder von einem Kindermädchen betreut, die Wohnung von einer (häufig migrantischen und selten angestellten) Putz kraft gereinigt. Auch das führt zu einer ungerechten Verteilung von Zeit. Wenn Sorge und Hausarbeit, Erwerbstätigkeit und Pendelzeiten zu einem Einschränken der Zeit führen, die für die eigene Reproduktion benötigt wird, spricht man von Zeitarmut. Angelehnt an das Konzept der finanziellen Armut richtet sich der Fokus dabei auf (zu) wenig freie und selbstbestimmte Zeit sowohl in Quantität als auch in Qualität (siehe den Beitrag von Dornis et al. in diesem Heft). Die eigene Erholung, Verschnaufpausen und gesunder Schlaf kommen dann häufig ebenso zu kurz wie klimafreundliches Han deln. Da Zeitarmut das Gegenteil von Zeitwohlstand ist, muss hier bei zeitpolitischen Maßnahmen zuvorderst angesetzt werden.
Zeitverwendungserhebungen in Österreich – gesetzliche Absicherung erforderlich!
Zeit ist eine zentrale Dimension von gesellschaftlichem Wohlstand. Umso wichtiger ist es, ausreichend Wissen über die Zeitverwendung zu haben. Zeitverwendungserhebungen (ZVE) füllen diese Lücke und sollten alle zehn Jahre von den statistischen Institutionen durchgeführt werden. Im Dezember 2023 wurden die Ergebnisse der jüngsten ZVE für Österreich seitens der Statistik Austria veröffentlicht (Statistik Austria 2023). Dass die Erhebung unter Schwarz-Blau II verzögert und erst unter der schwarz-grünen Bundesregierung finanziert wurde, die Veröffentlichung durch das ÖVP-geführte Frauenministerium eine Woche vor Weihnachten und ohne signifikante Pressearbeit statt fand, verdeutlichen jedoch, dass den Daten von Zeitverwendung zu wenig Bedeutung beigemessen wird bzw. deren Erhebung politisch umstritten ist. Dabei sind aktuelle Zahlen wichtig für die Beurteilung politischer Maßnahmen. Das hat im Bereich der Gleichstellungspolitik nicht zuletzt die Covid-Krise gezeigt, in der Lockdowns und das Schließen von Betreuungseinrichtungen zu einer Verfestigung von Rollenbildern und einer Zunahme der Belastung von Frauen geführt haben (Derndorfer et al. 2021 ). Aber auch für andere Themenbereiche, wie etwa der Mobilität, Stadtplanung oder Sozialpolitik, sind aktuelle Daten zur Zeitverwendung hilfreich. Es wäre daher dringend angebracht, im Rahmengesetz der Statistik Austria eine regelmäßige Durchführung der ZVE in Österreich zu verankern oder zumindest eine gesetzliche Verankerung wie in Deutschland (Gesetz über die statistische Erhebung der Zeitverwendung (Zeitverwendungserhebungsgesetz – ZVEG)) zu erreichen, um die Finanzierung der Erhebung außer Streit zu stellen (und diese nicht zu einem „Frauenthema“ zu machen, für das ausschließlich das Frauenministerium zu zahlen hat). Damit wäre auch garantiert, dass die nächste ZVE rechtzeitig gestartet wird.
Die aktuelle Zeitverwendungserhebung: Möglichkeiten und Einschränkungen
Die aktuelle ZVE ist die vierte ihrer Art in Österreich, wobei Vergleiche zwischen den Erhebungen aufgrund unterschiedlicher Erhebungsmethoden teils schwierig sind. Da mit sind leider kaum Aussagen über langfristige Veränderungen – etwa in den Geschlechterbeziehungen – möglich. Auch die Datenqualität ist eine Herausforderung – die Statistiker:innen der Statistik Austria haben mit einer niedrigen Rücklaufquote zu kämpfen gehabt und mussten den Erhebungszeitraum verlängern. Von den 18.778 kontaktierten Haushalten haben lediglich 4.528 teilgenommen (Statistik Austria 2023). Für eine Analyse bestimmter Personengruppen und bestimmter Tätigkeiten ist die Stichzahl daher oftmals (zu) niedrig. Trotz dieser Mängel ist die Erhebung und der mit ihr veröffentlichte Bericht die zentrale Quelle über die Zeitverwendung der Menschen in Österreich und insbesondere die Verteilung der unbezahlten Arbeit.
Aus den teilnehmenden Haushalten haben 4.244 Frauen und Mädchen über 10 Jahren und 3.619 Männer und Buben Fragebögen und Zeittagebücher ausgefüllt. Die Teilnehmer:innen sollten jeweils an einem Wochentag und einem Wochenendtag ein Tagebuchblatt ausfüllen und in 10-Minuten-Einheiten ihre Zeitverwendung dokumentieren. Die ausgefüllten Tätigkeiten wurden im Anschluss von der Statistik Austria in acht Tätigkeitsbereiche zusammengefasst: Schlafen, Essen und andere persönliche Tätigkeiten, Erwerbstätigkeit, Aus- und Weiterbildung, Sorgearbeit in Haushalt und Familie, Freiwilligentätigkeit, soziale Kontakte und Freizeit sowie andere und nicht näher be stimmte Zeitverwendung. Es wurden sowohl Haupt- als auch Nebentätigkeiten abgefragt, was insbesondere für die Analyse der Zeitverdichtung spannend ist, da so Tage in der Theorie für manche Personen durchaus mehr als 24 Stunden haben können. Im Schnitt wenden Frauen und Mädchen täglich 3 Stunden 37 Minuten für unbezahlte Sorgearbeit in Haushalt und Familie als Haupttätigkeit auf, Männer und Buben deutlich weniger mit 2 Stunden 6 Minuten.
Die Verfügbarkeit von Daten ist wichtig, das Wissen um Zeitarmut und die ungleiche Verteilung unbezahlter Arbeit allein ändert jedoch gesellschaftliche Strukturen noch nicht. Für die eingangs erwähnten Faktoren, die zu einer ungerechten Verteilung von Zeit führen, braucht es daher unterschiedliche zeitpolitische Interventionen, um einen höheren gesellschaftlichen Zeitwohlstand zu erreichen. Diese reichen von einer für alle täglich reduzierten Erwerbsarbeitszeit, einer Steigerung der Beteiligung von Vätern an der Kinderbetreuung, einer Umverteilung von Hausarbeit bis hin zu einer fußgänger:innenfreundlichen Stadtgestaltung.
Die Beiträge in diesem Heft
Die Beiträge in diesem Kurswechsel bieten tiefere Einblicke in die ungerechte Verteilung von Zeit, beleuchten unterschiedliche Dimensionen von Zeit und Zeitwohlstand und liefern zeitpolitische Vorschläge, mit denen der Wohlstand aller erhöht werden kann. Die ersten Beiträge beinhalten tiefergehende Analysen der Daten der aktuellen ZVE. So zeigen Sophie Achleitner und Tamara Premrov anhand der Gender Care Gaps in Österreich die nach wie vor ungleiche Verteilung der unbezahlten Arbeit zwischen den Geschlechtern auf. Sie verdeutlichen, wie eine ausgewogene Aufgabenteilung der Haus und Familienarbeit zwischen Frauen und Männern auch zu einer Gleichverteilung der
bezahlten Arbeitsstunden und damit zu einer geschlechtergerechten Gesellschaft bei tragen kann. Anschließend lenkt Judith Derndorfer den Fokus auf die Qualität der
vorhandenen Zeit. Dabei wird deutlich, dass Frauenzerstückeltere Tagesabläufe als Männer haben: Sie kombinieren häufiger Hausarbeit und Kinderbetreuung mit anderen Sorgeaufgaben. Insgesamt steht ihnen weniger reine Freizeit zur Verfügung, die nicht durch Sorgearbeit beeinträchtigt ist. Die folgenden beiden Beiträge widmen sich den Zusammenhängen von Zeit, Klima und Gesundheit. Barbara Smetschka, Lisa Kaufmann, Claudine Egger, Willi Haas und Christian Dorninger zeigen anhand der Handlungsfelder Sorgearbeit, Freizeit und Mobilität auf, dass eine gerechte Zeitpolitik ein zentraler Ansatzpunkt für eine klimaneutrale Gesellschaft ist, indem sie die tiefer liegenden, klimarelevanten Zeitstrukturen der Gesellschaft adressiert. Nora Dornis, Lukas Heck, Hanna Völkle und Corinna Dengler erläutern das Konzept des Zeitwohlstands und diskutieren dessen Potentiale für Gesundheit und Klima. Sie kommen zu dem Schluss, dass gute Zeitpolitik eine sozial-ökologische Transformation unterstützen kann, und stellen zeitpolitische Maßnahmen und Ansätze aus verschiedenen Städten vor, bevor sie daraus allgemeine Leitgedanken für eine zukunftsgerichtete, resiliente Zeitpolitik ableiten. Quirin Dammerer und Clara Himmelbauer analysieren aktuelle empirische Literatur zur Arbeitszeitverkürzung und untersuchen welche Auswirkungen eine Erwerbsarbeitszeitverkürzung auf die Verteilung von unbezahlter Arbeit und Zeitarmut in Österreich haben könnte. Abschließend gewährt Karin Sardadvar einen Ein blick in den Alltag von Frauen mit geteilten Diensten – das sind mehrstündige unbezahlte Unterbrechungen – in der Erwerbsarbeit und ihre Auswirkungen auf das Familienleben. Diese Variante der flexibilisierten Arbeitszeiten, die besonders häufig in der Reinigungsbranche sowie der Pflege und Betreuung vorkommen, ist in Österreich zwar weit verbreitet, aber überraschend wenig bekannt. Die geteilten Dienste haben massive negative Auswirkungen auf den Zeitwohlstand, dies wird anhand der Berichte der Frau en sehr offensichtlich, aber auch theoretisch eingebettet. Die Frage nach Alternativen zu geteilten Diensten wird auch im Kontext von Erfahrungen aus anderen Ländern diskutiert.
Literatur
Derndorfer, Judith/Disslbacher, Franziska/Lechinger, Vanessa/Mader, Katharina/Six, Eva (2021): Horne, sweet home? The impact of working from home on the division of unpaid work duvockdown. PLoS ONE 16(n): eo259580. https://doi.org/ro.r37r/journal.pone.0259580,18.12.2024.
Statistik Austria (2023): Zeitverwendung 202r/22. Ergebnisse der Zeitverwendungserhebung. https://www.statistik.at/fileadmin/user_upload/ZVE_2o2r-22_barrierefrei.pdf,18.12.2024.