Auf dem Weg in die Zukunft: Kurswechsel oder Disruption?

Die Heftredaktion

Zwei sehr unterschiedliche Jubiläen fallen dieses Jahr zusammen: Seit 40 Jahren gibt der Beirat für gesellschafts-, wirtschafts- und umweltpolitische Alternativen (BEIGEWUM) die Zeitschrift „Kurswechsel“ heraus. Und vor 2 5 Jahren bildete sich in Österreich erstmals eine Regierungskoalition aus ÖVP und FPÖ.
Der Umgang mit dem je eigenen Jubiläum ist etwas unterschiedlich. Die genannten Parteien starteten das Jubiläumsjahr mit der Planung einer erneuten gemeinsamen Regierungsbildung, was kurz nach dem Jahrestag aber scheiterte. Jubiläumsfeierlichkeiten blieben aus.
Der Kurswechsel hingegen feiert sein Jubiläum unbefangen und nimmt die Kontinuität von vier Jahrzehnten des Erscheinens als Rückhalt für den Aufbruch in eine spannende Zukunft ohne Aussicht auf ein Ablaufdatum. Wir nutzen in diesem Heft eine Art selektiv rückblickender Leistungsschau als Material und Ausgangspunkt für eine Zukunftsperspektive. Was wurde eigentlich aus der Zukunft in zentralen Themenfeldern und Zeitdiagnosen, die im Kurswechsel Diskussionsgegenstand waren und sind? Was hat sich im Zeitablauf geändert, womit müssen wir rechnen?
Wir haben in dieser Nummer eine Auswahl an Zukunftsdiagnosen aus bisherigen Kurswechsel-Debatten getroffen, um sie unter aktualisierten Vorzeichen auf ihre Zukunftstauglichkeit hin zu überprüfen. Einleitend will die Zukunft selbst als sozial theoretisches Studienobjekt ein wenig vermessen werden.

Was wurde eigentlich aus … der Zukunft?

Dass Anfang 2025 die Bildung einer Rechtskoalition in Österreich im Raum stand, steht für weit über die heimischen Grenzen hinausreichende politische Terrainveränderungen seit Gründung des Kurswechsel. Sie haben auch an veränderten Begriffsbedeutungen ihre Spuren hinterlassen, mit denen Zukunftsentwürfe kursieren. Forderungen nach ,,gesellschafts-, wirtschafts- und umweltpolitischen Alternativen“ und nach einem „Kurswechsel“ sind heute vielleicht sogar verbreiteter und populärer als vor 40 Jahren. Sie werden allerdings im neuen Jahrtausend überwiegend im Namen völlig konträrer Weltbilder vorgetragen (z.B. ,,Alternative für Deutschland“ etc.), in denen Bemühungen zum Schutz von Klima, Flüchtlingen, Diversität und sozialem Zusammenhalt als monströse Freiheitsbedrohungen denunziert und bekämpft werden.
Begriffsverschiebungen können Indikatoren veränderter politischer Auseinandersetzung sein, und sind auch als Indikator für gesellschaftliche Zukunftsorientierungen nützlich. Betrachtet man in einer ersten Annäherung den Wandel zukunftsbezogener Leitbegriffe über die Zeit als Indikator, mit denen kultur- und sozialwissenschaftliche Studienprojekte die jeweils gegenwärtige Zukunftsorientierung ihrer Zeit auf den Punkt zu bringen versuchen, stieß man Anfang des Jahrtausends auf „lebenslanges Lernen“ und „Prävention“ (Bröckling et al. 2004), Anfang des aktuellen Jahrzehnts auf „Angst“ (Schmidt-Lauber et al. 2022), und aktuell auf „Disruption“ (Bröckling et al. 2024). ,,Disruption“ als zeitdiagnostischer Schlüsselbegriff trete heute, so erläutert die aktuelle Fassung des „Glossar der Gegenwart‘: an die Stelle von „Normalität‘: Stimmigerweise gehört zur Erwartung von Disruption als zukunftsbestimmend auch, dass die Aussicht potenziell von ihr Betroffener, sie verhindern zu können, dem Bedürfnis weicht, sich gegen sie zu wappnen, folglich „Resilienz“ im aktuellen Glossar an die Stelle von „Prävention“ tritt.

Die Stunde der Disruption?

Disruption ist zum Schlüsselbegriff im Kontext eines global beschleunigten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturwandels geworden, der unter anderem zu einer Neuordnung der globalen Arbeitsteilung führt und erreichte Positionen vielerorts weniger sicher erscheinen lässt. Radikalisierte Sammlungsbewegungen rund um aggressive Führungsfiguren als Disruptions-Verkörperungen erobern gesellschaftliche Machtpositionen in Staat und Privatwirtschaft, indem sie das problematisieren. Sie beanspruchen das Prinzip der Ausdehnung des Eigenen auf Kosten des Anderen als legitimes Recht des Stärkeren und propagieren den Abbau von internen und externen Hürden gegen dieses vermeintliche Naturrecht als Zukunftsprojekt. Zu diesem Zweck soll der Staat im Geiste eines libertären Autoritarismus und patriarchaler Werte transformiert werden, und den Schwerpunkt seiner Leistungen für die Bevölkerung auf die Sicherung von individuellen Freiheiten setzen, die an die private Eigentumsausstattung (Staatsbürgerschaft, Bargeld, Auto, Eigenheim, Unternehmen etc.) anknüpfen, und Vorrechte gegenüber Eigentumslosen akzentuieren. Im Außenverhältnis steht eine konfliktbereite Außenwirtschaftspolitik im Fokus.
Disruption wird vom Effekt eines oft sprunghaft verlaufenden, aber kontinuierlichen unpersönlichen Prozesses der wirtschaftlichen Verwertung technischer Forschung zum Effekt des Handelns herausragender Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Politik umdefiniert, und als Selbstzuschreibung zum Erfolgsfaktor im wirtschaftlichen und politischen Wettbewerb um Führungspositionen.
Dass Persönlichkeiten mit einer Selbstpräsentation als Agens der Disruption vielerorts Begeisterung statt Angst vor dem Unbekannten wecken können, hat sicher viele Ursachen, unter anderem Unzufriedenheit mit bestehenden Zukunftsaussichten. Ein Grund mag darin liegen, dass Zukunft sich in der Wahrnehmung vieler Menschen als Abfolge von Disruptionen normalisiert hat, und Teil der aus Krisenerfahrungen abgeleiteten Erwartungen geworden ist. Soziologische Diagnosen sehen die Beschleunigung des sozialen Wandels als ein bestimmendes Merkmal unserer Epoche, in der Wirtschaft, Wissenschaft und Technik die treibenden Bereiche sind und kurzfristigen Logiken unterliegen. Die Zeiträume, für die wir mit einiger Konstanz unserer Lebensverhältnisse rechnen können, werden kürzer (Rosa 2005, Koselleck 1989). Sich hinter Persönlichkeiten zu versammeln, die für Disruption werben, mag in diesem Kontext als Zugewinn von zumindest symbolischer Ermächtigung und Teilhabe empfunden werden gegenüber einem gesichtslosen Prozess, dem die Gesellschaft ohnmächtig ausgeliefert scheint.
Politische Disruption ist ja auch nie richtungslos, sondern ein zielgerichtetes Reformprojekt, das aus der Transformation des Staates im Dienste des Wirtschaftsstandorts ein Zukunftsprojekt macht, das neue Chancen für all jene verspricht, die professionell und routinemäßig an der gesamtwirtschaftlichen Zukunft bauen, in dem sie über Kapital disponieren, und jene, die davon zumindest im Windschatten zu profitieren hoffen.

Gemachte Zukunft

Zukunft wird im Kapitalismus laufend produziert, in Form der investiven Ressourcenwidmung in der Gegenwart in Erwartung künftiger Erträge, ermöglicht durch zeitversetzten Leistungstausch mithilfe von Kreditgeld, Rechtssystem, Lohnkontrakten, Staat und Finanzsektor. Privatwirtschaftliche und staatliche Instanzen sind permanent damit beschäftigt, Zukunft organisiert zu prognostizieren, zu bewerten, zu planen, zu versichern, und durch Eingehen von Verpflichtungen und Erwerb von Forderungen in Form von verbindlichen Zahlungs- oder Leistungszusagen mitzuschaffen. Die Ungewissheit der Zukunft, die die Lebensplanung der Menschen erschwert, wird dort als Raum der Chancen und Risiken strukturiert und bearbeitet, und zur Ressource, die ökonomisches Handeln in der Gegenwart motiviert. Werte werden von der Zukunft ausgehend fixiert, umgekehrt wird sich die Zukunft in Abhängigkeit von heutigen Bewertungen verändern: Die Gegenwart hängt von der Zukunft ab, die ihrerseits von der Gegenwart abhängt, die sich nach ihr richtet (Esposito 2010, 28). Disruptive Chef-Persönlichkeiten in Wirtschaft und Politik rechtfertigen ihren Anspruch auf Entscheidungsmacht und Entlohnungs-Privilegien in der Gegenwart mit ihrem privilegierten Einblick in eine profitable Zukunft, die sich durch ihre räumliche und zeitliche Feme jedem kritischen Einspruch zu entziehen versucht. Ihre öffentlich inszenierte Außergewöhnlichkeit speist sich dabei weniger aus einem Geist der Abweichung und des Eigensinns, sondern resultiert eher aus einer Art „panischer Überanpassung an – verloren gegangene oder phantastische – Ordnungen und Autoritäten“ (Noland nach Diederichsen 2025 ), meist männliche Superhelden aus Mythen der familiären, gesellschaftlichen oder literarischen (science fiction) Geschichte, und verknüpft so das Neue und Zukünftige mit einer Wiederkehr des Alten (Cowboys erobern den Mars).
All dies findet in einem politischen Raum statt. Die kapitalistische Dynamik hängt von der Schaffung von politisch stabilisierten Erwartungen ab, die (Zahlungs)versprechen glaubwürdig, Güter begehrenswert, Zukunftsentwürfe verfolgenswert, Investitionen und Strategien plausibel erscheinen lassen (Beckert 2018).
Privat investiertes Kapital bindet Arbeitskräfte und in der Regel knappe Ressourcen und bringt irgendwann Gewinne oder Verluste, die beide das Potenzial bergen, im Wirtschaftskreislauf an andere weitergegeben und damit zu einem gewissen Grad sozialisiert zu werden. Mit verschiedenen Versicherungssystemen und dem Staat als Risikoversicherung der letzten Instanz werden private Risiken gesellschaftlich mitgetragen. Private Zukunftspläne hinter Investitionsprojekten reichen somit über den jeweiligen Privatbereich hinaus und legen auch ein Stück weit gesellschaftliche Zukunft fest. Wenn jeder Versuch politischer Gestaltung, der die Zukunftspläne der Privatwirtschaft gefährden könnte, eine Wirtschaftskrise auszulösen droht, die alle triffi:, verengt sich der Handlungsspielraum in der Gegenwart (Rau 2023, Madörin 1998).
Dass dennoch die Rhetorik der Disruption an Machtpositionen gelangt, ist nicht wirklich eine Gegenbewegung dazu. In der Theorie des Kapitalismus als dynamischer Prozess wird die Wirtschaftsentwicklung als eine Abfolge von Disruptionen getrieben, in denen innovative Unternehmen ältere Unternehmen an Marktmachtpositionen ablösen, als eine wichtige Dimension der permanenten Selbsterneuerung des Kapitals. Schumpeters Begriff „schöpferische Zerstörung“ macht das Verschwinden des Alten zur Vorbedingung des Neuen im Rahmen der Bewahrung des systemisch immer Gleichen. Disruption hat hier eine theoretische Verankerung als zukunftsorientierter Hoffnungsträger auf regelmäßige Selbsterneuerung eines Wirtschaftssystems im Rahmen kleinerer und größerer Zyklen.
Diese Theorie gibt der Disruption theoretische Rückendeckung, beschreibt aber nicht sehr treffend die Praxis. Zeitgenössische politische Disruptoren machen deutlich, dass sie nicht die beschleunigte Abwicklung, sondern oft eher den Erhalt älterer Industrien im Auge haben, und dass sich ihre Zerstörungsabsichten vorwiegend auf die Transformation des Staates richten, auf nationaler wie internationaler Ebene. Durch Durchbrechung von eingespielten Erwartungen, durch die eigene Unberechenbarkeit in der Machtausübung sorgt das Führungspersonal der Disruption zwar einerseits für Verunsicherung, aber auch dafür, die gesellschaftliche Zukunft offen zu halten, und insbesondere den Zukunftsoptimismus von Gleichgesinnten zu stärken, die als Risikobereite angerufen werden.
Schwerer berechenbar wird dadurch auch die Zukunft der Demokratie (White 2024). Nicht unbedingt deshalb, weil ihre ersatzlose Abschaffung zu erwarten wäre. Sondern eher, dass sie immer weniger als institutionalisierter dauerhafter Diskussions- und Aushandlungsprozess über gesellschaftliche Zukunft verstanden wird und damit als Technik zu deren Offenhalten fungiert. Stattdessen ist ein Demokratieverständnis im Aufwind, das Demokratie als Schnellgerichtsverfahren zur organisierten punktuellen Mehrheitsfeststellung und marktförmiges Ausleseverfahren begreift, um überstimmte und nicht Stimmberechtigte zu entrechten, aufkommende Debatten schon im Keim zu ersticken, Machtpositionen auf Dauer festzulegen, unbeschränkte Autorität mit umfassenden Durchgriffsrechten und allgemeinverbindliche Normalitätsvorstellungen zu legitimieren, Gegner zum Schweigen zu bringen, Gewaltenteilung aufzuheben, irreversible Weichenstellungen für die Zukunft zu treffen etc.

Zukunftsaussichten und politische Bearbeitung

Zukunft ist an sich offen, weitgehend unvorhersehbar, unberechenbar, aber dennoch Gegenstand von Prognosen. Im aktuellen Jahrtausend häufen sich Negativprognosen, und die jüngst steigende Häufigkeit größerer Krisen wird vielfach als Vorbote für eine negative Zukunft interpretiert.
Die Zukunft wird von vielen Menschen statt als unbegrenzter Möglichkeitshorizont zunehmend als ein unkontrollierbares Gefahrengebiet erlebt (Schauer 2023), als Belastung, Niedergang (Spöri/Neele 2024), Abstieg (Nachtwey 2016), Verlust (Reckwitz 2024), Endzeit (Zizek 2010), verschlossen (Gaub 2023) oder kolonisiert (vgl. die Verschwörungserzählung vom „großen Austausch‘: Kranebitter/Willmann 2024) wahrgenommen. Zukunftsoptimismus ist ungleich verteilt, und hängt stark vom sozialen Status ab. Zukunftsoptimismus ist eng mit wahrgenommenen Einflussmöglichkeiten verbunden und sinkt im Allgemeinen mit steigender räumlicher und zeitlicher Entfernung vom aktuellen persönlichen Umfeld, so die Zukunftsforschung (Gaub 2023). Die rückläufige Teilhabe an Einheiten mit größerer Gestaltungskraft wie Parteien, Gewerkschaften und anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen mit politischem Mitgestaltungsanspruch und Zukunftsprogrammen hat die Menschen individualisiert, aber damit auch stabiler Träger und Stützen geteilter Zukunftspläne beraubt. Im Zeitalter rückläufiger Mitgliedschaften bei zivilgesellschaftlichen Organisationen wie Parteien, Gewerkschaften, Kirchen, und verkürzten Laufzeiten von Jobs, Partnerschaften, sozialen Bewegungen verbleibt für viele die Nation oder Region oft als die einzige kollektive Entität mit ausreichend sicherer Mitgliederbindung und organisiertem Machtrahmen, um eine Zukunftsvision zu tragen. Obwohl sie so überholt erscheinen, sterben nationalistische Zukunftsvisionen deshalb nicht aus, und sind in diesem Jahrzehnt wieder stark im Aufwind.
Parteien werben heute nicht so sehr mit Zukunftsgestaltungsprojekten um Mitglieder, sondern werben mit der Aussicht auf allenfalls noch kleine Atempausen vor der negativen Zukunft um Wahlstimmen einer politisch weitgehend unorganisierten Bevölkerung. Auch Zukunftssorgen nicht zu adressieren, politisch zu bearbeiten und mit politischen Gestaltungsentwürfen zu begegnen, kann politischen Erfolg bringen. Eigenartig karge und bescheidene Zukunftsfantasien wussten die wahlkämpfenden Parteien dem vermuteten Zukunftspessimismus bei den letzten Nationalratswahlen in Österreich entgegenzusetzen: ,,Wähl, als gäb’s ein morgen‘: ,,5 gute Jahre‘: ,,Autoland bleiben“ standen etwa zur Wahl. Das Wahlergebnis bündelte die kollektiven Ohnmachtsgefühle nicht in der Hoffnung, die erwartete negative Zukunft konstruktiv abzuwenden, sondern sie in einer einmaligen nationalen Kraftanstrengung unbearbeitet auf das Ausland abwälzen und dann die Tür verschließen zu können, um in der eigenen Höhle der Fantasie nationaler Stärke und Unabhängigkeit Raum zu geben und die unentrinnbare Abhängigkeit von anderen Menschen gedanklich wegzuschieben (vgl. Schauer 2023). Disruption als Befreiungsschlag aus einer gefühlten Falle oder Abwärtsautomatik zieht ihren Reiz eher aus der Entfesselung von Leidenschaften und dem Aufbruch ins Unbekannte als aus einem langfristigen Plan für eine gestaltete, kontrollierte, vorhersehbare Zukunft. Der Faschismus des vorigen Jahrhunderts ist hauptsächlich als gesellschaftliches Militarisierungsprojekt, totalitärer Kontrollapparat und industrialisierte Massenvernichtung in Erinnerung, basierte aber auch auf der Verherrlichung von Unvorhersehbarkeit und kreativer Zerstörung, feierte Gewalt und Charisma gegen die von Wirtschaftskalkülen und Gesetzen, Banken und Bürokratien verwaltete Welt (White 2024, 7) – eben Disruption.
Disruption als Befreiungsschlag beansprucht und verspricht Freiheit. Die Meinungsfreiheit als Recht umzudeuten, offenkundig Unwahres und Ungeheuerliches auszusprechen, wird als Mittel zur Schaffung von Aufmerksamkeit und als Machtdemonstration instrumentalisiert. Die Freiheit, die Personen im Namen der Disruption für ihr Dominanzverhalten in Anspruch nehmen, ist in der Regel nicht universalisierungsfähig. Sie steht oft in einem Spannungsverhältnis zum demokratischen Rechtsstaat und den Freiheiten und Interessen anderer Menschen. ,,Betrüger, Demagogen, Diktatoren und Schwindler haben eines gemeinsam: Sie alle geben sich als Libertäre aus. Jede Einschränkung ihrer Aktivitäten, so krakeelen sie, sei ein Angriff auf die Freiheit“ (Velasco 2025 ). Die von Disruption geweckten Zukunftserwartungen sind zwar oft spektakulär, aber eben auch enttäuschungsanfällig und in ihrem Namen erlangte Machtpositionen können oft nicht lange gehalten werden. Die Feier der Instabilität verspricht eben keine Stabilität, und verschaffi deshalb erst mal nur sehr kurzfristige Aussichten, auch für ihr Führungspersonal.
Wie in vergangenen Wellen rechter Erneuerungspolitik verschieben sich dadurch jedoch die Koordinaten des Terrains, auf denen soziale bzw. politökonomische Auseinandersetzungen stattfinden und erzeugen Diskussions- und Neuformierungsbedarf für alle, die nach zukunftsfähigen gesellschafts-, wirtschafts- und umweltpolitischen Alternativen streben.
Konfliktorientierte Disruption an wichtigen Schalthebeln der Macht verengt also zwar fürs erste die Aussichten für kooperationsabhängige Zukunftswege bzw. verschiebt Hoffnungen auf ihre Durchsetzung in die Zukunft, birgt aber selbst auch ein hohes Risiko des Scheiterns, sodass offenbleibt, wann sich wieder die Gelegenheit bietet, alternative Zukunftswege einzuschlagen.
Die Aufgabe, Leidenschaften für zivilisiertere, alternative Zukunftsvisionen zu wecken ist eine Aufgabe der politischen Opposition. Die ist heutzutage oft schwach, weil politische Parteien auf keine Massenloyalität für langfristige Zukunftsprogramme bauen können, sondern sich im permanenten Positionierungswettbewerb um mobile Wählerschaft ständig neu erfinden müssen, und weil viele Machtzentren abseits der Regierung (Unternehmen, öffentliche Institutionen) auch wenig Gelegenheit für organisierten Widerspruch bieten (White 2024).
Nicht nur aus diesem Grund rechnen wir mit anhaltendem Bedarf für Projekte wie Kurswechsel und BEIGEWUM – als Räume für das organisierte Nachdenken und Diskutieren von gesellschafts-, wirtschafts- und umweltpolitischen Alternativen, die leb bare und lebenswerte Zukünfte ermöglichen sollen.

Beiträge in diesem Heft

Was wurde eigentlich aus der Zukunft, fragen die Autor:innen in diesem Heft mit Blick auf ausgewählte prägende Themen aus 40 Jahren „Kurswechsel‘:
Tamara Premrov und Jana Schultheiss sehen eine neue Welle der Austeritätspolitik auf uns zukommen, und tragen jene Lehren aus der Vergangenheit zusammen, mit denen sich kritisch darauf reagieren lässt.
Joachim Becker zeichnet nach, wie es so weit kommen konnte, dass rechtsextreme Parteien in Europa zunehmend zukunftsgestaltende Positionen erreichen können, und ordnet die österreichischen Entwicklungen im europäischen Kontext ein.
Kurt Bayer geht auf die Suche nach den Wurzeln des „Autoland Österreich“ und zeigt auf, dass weder seine verklärende Beschwörung noch die Zweifel an seiner Zukunftsfähigkeit als industriepolitischer Strategie wirklich neu sind. Ungleichheit ist ein Dauerbrenner und Leitthema im Kurswechsel.
Julia Hofmann und Matthias Schnetzer zeichnen nach, wie sich die Debatte im Zeitablauf verändert und um neue Dimensionen und drängende Zukunftsprobleme bereichert hat.
Oliver Prausmüller widmet sich den politischen Konjunkturen des Spannungsfelds von öffentlicher und privater Sphäre, und seiner Zukunftsfähigkeit als analytisches Raster für kritische Analyse.
Elisabeth Springler zeigt, wie der Wohnbau im Zeitablauf als politische Konfliktzone mit unterschiedlichen Schwerpunkten fungierte, und wie sich das Spannungsfeld von Kornmodifizierung und Leistbarkeit weiter zuspitzt.
Christian Berger gleicht kritische Erwartungshaltungen vor dem Beitritt Österreichs zur EU mit aktuellen Perspektiven auf die Zukunft einer EU ab, die mittlerweile zu einem prägenden innen- und außenpolitischen Kontext für dieses Land geworden ist.

Literatur

Beckert,Jens (2018): Imaginierte Zukunft: Fiktionale Erwartungen und die Dynamik des Kapitalismus,Frankfurt a.M.

Bröckling, Ulrich/Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas (Hg.,2004): Glossar der Gegenwart, Frankfurt a.M.

Bröckling, Ulrich/Krasmann, Susanne/Lemke, Thomas (Hg., 2024): Glossar der Gegenwart 2.0, Frankfurt a.M.

Diederichsen, Diedrich (2025): Das Rohe und das Kettengesägte, in: Berlin Review 9/3, https://blnreview.de/ausgabenho2 5-0 3/diederichsen-voelkisch-libertaer-faschismus-kettensaege

Esposito, Elena (2010): Die Zukunft der Futures. Die Zeit des Geldes in Finanzwelt und Gesellschaft, Heidelberg.

Gaub, Florence (2023): Zukunft. Eine Bedienungsanleitung, München.

Koselleck, Reinhart (1989): >Erfahrungsraum< und >Erwartungshorizont< – zwei historische Kategorien, in:

Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M.

Kranebitter, Andreas/Willmann,Johanna (2024): Rechtsextremismus Barometer, Dokumentationszentrum des österreichischen Widerstands (DÖW) Studien, Wien.

Madörin, Mascha (1998): Wie das internationale Finanzsystem Zukunft kontrolliert, Widerspruch 36, 42-51.

Nachtwey, Oliver (2016): Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Modeme, Frankfurt a.M.

Rau, Milo (2023): Die Rückeroberung der Zukunft. Ein Essay, Hamburg.

Reckwitz, Andreas (2024): Verlust. Ein Grundproblem der Modeme, Frankfurt a.M.

Rosa, Hartmut (2005): Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Modeme, Frankfurt a.M.

Schauer, Alexandra (2023): Mensch ohne Welt. Eine Soziologie spätmoderner Vergesellschaftung, Frankfurt a.M.

Schmidt-Lauber, Brigitta/Liebig, Manuel (Hg., 2022): Begriffe der Gegenwart. Ein kulturwissenschafl:liches Glossar, Wien/Köln.

Spöri, Tobias/Eilers, Neele (2024): A Call to Counter the Anti-Democratic Surge Following the 2024 European Parliament Elections, ÖGfE Policy Brief 11.

Velasco, Andres (2025 ): Eine Lösung auf der Suche nach einem Problem. An Bitcoin soll die Welt genesen – der unheilige Chor der Krypta-Industrie. Neue Zürcher Zeitung 31.1.2025.

White,Jonathan (2024): In the long run. The future as a political idea, London.

Zizek, Slavoj (2010): Living in the end times, London/New York.

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