Alltag – BEIGEWUM

Stichwort: Alltag


Tagung „Krise ohne Alternative?“

Juli. 6th 2009 — 11:08

Die Asso­zia­ti­on für kri­ti­sche Gesell­schafts­for­schung tag­te am 3./4.7.2009 in Wien zum The­ma „Kri­se ohne Alter­na­ti­ve?“. Neben par­al­le­len Arbeits­grup­pen zu All­tag, Bewe­gung, Gewerk­schaf­ten, Kri­sen­ver­lauf, Migra­ti­on, Öko­lo­gie und Sozi­al­po­li­tik wur­de in zwei Ple­nar­de­bat­ten über Kri­sen­de­fi­ni­tio­nen, die Rol­le lin­ken Wis­sens und Zukunfts­sze­na­ri­en diskutiert.

 

Wel­che Krise?
In den Kri­sen­dia­gno­sen auf der Tagung bil­de­ten makro­öko­no­mi­sche und all­tags­be­zo­ge­ne Ana­ly­sen die Pole der Analyse. 
Joa­chim Becker inter­pre­tier­te die Kri­se als Aus­druck nicht-nach­hal­ti­ger Akku­mu­la­ti­ons­re­gime: Finan­zia­li­sier­te Import- und neo­merkan­ti­le Export-Län­der sei­en auf­ein­an­der ange­wie­sen und nun par­ral­lel von der Kri­se betrof­fen. Je bin­nen­ori­en­tier­ter ein Staat, des­to weni­ger kri­sen­be­trof­fen, so Becker. 
Bir­git Sau­er zufol­ge ist die Kri­se auch eine Kri­se der Lebens­wei­se, was sich in der Kri­se der Auto­in­dus­trie spie­ge­le. Die Auto­ge­sell­schaft steht für man­geln­de öko­lo­gi­sche Nach­hal­tig­keit, und ruhe auf einer spe­zi­fi­schen „Bevöl­ke­rungs­wei­se“, u.a. ein hege­mo­nia­les Geschlech­ter­re­gime punk­to Arbeit und Konsum.


Kri­se im Diskurs
In einer Ana­ly­se des media­len Dis­kur­ses unter star­kem Rück­griff auf Inter­net-Foren kon­sta­tier­te Heinz Stei­nert bei Gebil­de­ten die Nei­gung, das The­ma ins Mora­li­sche zu zie­hen, wäh­rend bei „gemei­nen Leu­ten“ die Ten­denz vor­herr­sche, sich zu arran­gie­ren und abzu­war­ten. Der Bou­le­vard zei­ge mit­un­ter auch eine gewis­se Häme gegen­über den Ver­lus­ten der Reichen. 
In der domi­nan­ten Kri­sen­de­fi­ni­ti­on wür­den Meta­phern von Krank­heit ein­ge­setzt, was einen Rück­kehr zum sta­tus quo ante als gesun­den Nor­mal­zu­stand impli­zie­re. Die Kri­se sei eine Kri­se von Arti­ku­la­ti­ons­mög­lich­kei­ten für eman­zi­pa­to­ri­sche For­de­run­gen, so Aria­ne Brens­sell. Isa­bell Lorey beton­te die nor­ma­li­sie­ren­den Effek­te der Kri­se – bis­her Skan­da­li­sier­tes wer­de selbst­ver­ständ­lich. Ein Ver­lust mora­li­scher Öko­no­mie sei zu beob­ach­ten, ein Ver­lust der Gren­zen der Zumutbarkeit.


Wie gut ist „lin­kes Wissen“?
Laut Heinz Stei­nert ist es der Lin­ken in der öffent­li­chen Debat­te um die Kri­se nicht gelun­gen, eine eigen­stän­di­ge Inter­pre­ta­ti­on ins Spiel zu brin­gen. Das zen­tra­le Ver­sa­gen sei, dass es nicht gelun­gen sei, die Zuschrei­bung von Wirt­schafts­kom­pe­tenz an Kon­ser­va­ti­ve Kräf­te infra­ge zu stellen.
Isa­bell Lorey führ­te die Selbst­ver­stricktheit von Lin­ken in die Ver­hält­nis­se als mög­li­chen Grund für die Schwä­che lin­ker Kri­sen­ana­ly­sen an. 
Alex Demi­ro­vic beton­te die Stär­ke lin­ken Wis­sens, und stell­te eher eine Kri­se der poli­ti­schen Mobi­li­sie­rung und Schwä­chen der Arti­ku­la­ti­ons­fä­hig­keit in den Vor­der­grund. In der Debat­te war umstrit­ten, ob lin­kes Wis­sen selbst defi­zi­tär, oder aus­rei­chend und gut, aber macht­los sei.


Zukunfts­pro­gno­se
Stei­nert sah die Kon­ser­va­ti­ven Kräf­te erfolg­reich, die Kri­se zu nut­zen, um den Staat stär­ker zu instru­men­ta­li­sie­ren und Refor­men in ihrem Sin­ne zu legi­ti­mie­ren. Die­ser Umgang stün­de in einer Tra­di­ti­on der letz­ten Jah­re, das Aus­ru­fen von Kri­sen zur Her­stel­lung von Ver­än­de­rungs­be­reit­schaft bei der Bevöl­ke­rung einzusetzen. 
Bir­git Sau­er zufol­ge wer­de die Finanz­kri­se dazu genutzt, um asym­me­tri­sche Geschlech­ter­ver­hält­nis­se zu sta­bi­li­sie­ren, abge­se­hen davon, dass letz­te­re auch zur Abfe­de­rung von Kri­sen­fol­gen her­hal­ten müs­sen. Aria­ne Brens­sell zeig­te das anhand der Dele­gi­ti­mie­rung von sozia­len und frau­en­po­li­ti­schen For­de­run­gen, die ange­sichts der Finanz­kri­se in den Hin­ter­grund gedrängt werden.
Im Gegen­satz dazu inter­pre­tier­te Mario Cand­ei­as die Reser­ven des Neo­li­be­ra­lis­mus als erschöpft, weil die Kri­se gezeigt habe, dass er weder neue Akku­mu­la­ti­ons­fel­der eröff­nen noch akti­ven Kon­sens der Beherrsch­ten her­zu­stel­len vermochte.
Für die wei­te­re Zukunft pro­gnos­ti­zier­ten eini­ge Wort­mel­dun­gen einen L‑förmigen Ver­lauf, also eine län­ger anhal­ten­de wirt­schaft­li­che Sta­gna­ti­on („Modell Japan“) mit der Fol­ge här­te­rer gesell­schaft­li­cher Aus­ein­an­der­set­zun­gen. Wolf­gang Nitsch führ­te das „Modell Süd­afri­ka“ als mög­li­ches Zukunfts­sze­na­rio an: Koexis­tenz eines klei­nen Bereichs, wo neo­li­be­ra­les Modell für eini­ge weni­ge funk­tio­niert, neben einem gro­ßen Bereich der auto­ri­tär ver­wal­te­ten Ver­elen­dung, und das alles bei funk­tio­nie­ren­dem Rechts­staat und par­la­men­ta­ri­scher Demokratie.


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