Ein bisschen Fortschritt, kein Wagnis

Stefan Hohn

„Mehr Fortschritt wagen. Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“ – unter diese Überschrift hat die neue deutsche Regierungskoalition aus SPD, FDP und Grünen – die sog. „Ampel“ – ihr Regierungsprogramm gestellt. Auf 178 Seiten handelt der Koalitionsvertrag alles ab, was die drei Regierungsparteien für die neue Legislaturperiode geplant haben, von neuen Lebendtiertransportrichtlinien bis zur längst überfälligen Streichung des sog. „Werbeverbots“ für Schwangerschaftsabbrüche. Auffällig ist dabei, wie schnell der Vertrag ausgehandelt wurde. Obwohl er mehr Änderungspunkte enthält als der Koalitionsvertrag der Vorgängerregierung aus Union und SPD und obwohl die Koalition aus drei Partnern besteht, von denen einer aus einem anderen politischen Lager stammt, hat es nur 73 Tage gedauert, bis der Vertrag und mit ihm die neue Regierung stand. Bei einer rechnerisch komplexen Ausgangssituation in einem Mehrparteiensystem kein leichtes Unterfangen.1 Nachdem 2017 allerdings die Sondierung der sog. „Jamaika-Koalition“ bestehend aus Union, FDP und Grünen an den Liberalen gescheitert war und in eine Erneuerung der großen Koalition mündete, waren die Ampelparteien und insbesondere die FDP diesmal von Anfang an geradezu gezwungen, eine Einigung zu erreichen, die, wenn schon nicht Harmonie, dann doch zumindest Stabilität und Zielgerichtetheit vermittelt. Dass die drei Partner dabei besser zueinander passen als ursprünglich gedacht, zeigt ein Blick in besagten Koalitionsvertrag.

Klima ist Wirtschaftssache

Zunächst einmal fällt auf, wie dominant sich der Klimawandel als Thema durch fast alle Bereiche zieht. Von der Digitalisierung bis zur Handels-, und Baupolitik wird auf das Erreichen der Klimaschutzziele eingegangen, von den engeren umwelt-, energie-, industrie- und verkehrspolitischen Klimazielen ganz abgesehen. Es gibt zwar kein eigenes Klimaschutzministerium, wie noch während des Wahlkampfes von den Grünen angedacht, dafür wurde das Wirtschaftsministerium des Grünen Vizekanzlers Robert Habeck um den Aufgabenbereich Klimaschutz erweitert. Galt dieses Ministerium unter Altmaier (CDU) noch als Bremser in Sachen Klimaschutzpolitik, hat Habeck von Anfang an Klimaexpert*innen an wichtigen Stellen im Haus positioniert. Künftig wird hier bspw. ausgerechnet, welches Ministerium seine Klimaziele erreichen wird uns welches nicht (vgl. Pinzler 2022). Daneben hat Habeck schon einen Monat nach seiner Vereidigung ein umfangreiches Klimasofortprogramm vorgestellt, das den Ausbau erneuerbarer Energien deutlich forciert. Was den Klimaschutz in der Industriepolitik angeht, setzt die Ampel in erster Linie auf marktwirtschaftliche Anreiz- und Preispolitik. Die Zusammenlegung von Wirtschaft und Klimaschutz in einem Haus zeigt in diesem Sinne deutlich, wie das Thema von der Ampel-Koalition verstanden und angegangen wird: Wirtschaftspolitische Anreize und innovations- bzw. technologiebasierte Wege sollen dem Klimakollaps entgegengestellt werden (vgl. Puschner 2021). Von schärferen Grenzwerten, Verboten oder von einer klimafreundlichen Steuerreform ist im Koalitionsvertrag nichts zu lesen. Es gelte zwar, „die soziale Marktwirtschaft als eine sozialökologische Marktwirtschaft neu zu begründen“ (Koalitionsvertrag 2021, folgend: KV, 5), aber auch unter der Ägide eines Grünen Wirtschafts- und Klimaschutzministers wird keine weitreichende ökologische Transformation stattfinden. Ob man auf diese marktbasierte Art und Weise die Klimaschutzziele, wie die Treibhausgasreduzierung bis 2030 um 65% im Vergleich zu 1990 oder die vollständige Klimaneutralität bis 2045, erreichen kann, bleibt ausgesprochen fraglich.2 Die geplanten Investitionen in Klimaschutz, aber auch in Digitalisierung und Forschungsförderung werde man „im Rahmen der bestehenden Schuldenregel des Grundgesetzes gewährleisten, Anreize für private Investitionen setzen und Raum für unternehmerisches Wagnis schaffen, um so Wachstum zu generieren“ (KV, 5). Die Fortschritte, die das grüne Wirtschafts- und Klimaschutzministerium wagen will, verlaufen also auch weiterhin unter den Paradigmen von Wachstum, Austerität und entlang des Primats privatwirtschaftsorientierter Lösungsansätze.

Deutschland bleibt Ampelland

Der Verkehrssektor, der immerhin 20 % der Emissionen in Deutschland ausmacht, ist noch weiter von einer echten ökologischen Wende entfernt. Dabei ist es bezeichnend, dass die Grünen auf das Verkehrsministerium verzichtet haben, um stattdessen das prestigeträchtige aber nur wenig mit echter Gestaltungsmacht ausgestattete Amt der Außenministerin zu besetzen. Zwar sollen bis 2030 ein Drittel aller zugelassenen PKW elektrisch sein, was ca. 15 Millionen neuer Autos entspricht, aber darin erschöpft sich bereits ein großer Teil der klimapolitischen Komponente im Verkehrssektor. Maßnahmen wie eine Senkung der Bahnpreise werden nur umgesetzt „sofern haushalterisch machbar“ (KV, 49). Kostengünstige Ansätze wie ein Tempolimit auf Autobahnen oder die Abschaffung der Pendlerpauschale findet man nicht im Koalitionsvertrag. Deutschland bleibt auch unter der Ampel vor allem Autoland.
Auf gesellschaftspolitischer Ebene sind mehr Fortschritte zu verzeichnen. Neben der eingangs erwähnten Abschaffung des §219a werden ebenfalls das Transsexuellengesetz, die Strafausnahmen des Gesetzes zum Schutz vor Konversionsbehandlungen und das Blutspendeverbot für Männer, die mit anderen Männern Sex haben, abgeschafft. Sozialpolitisch wird für Arbeitnehmer*innen der Mindestlohn von 9,60 € auf 12 €/Stunde angehoben. Gleichzeitig sollen aber auch Abweichmöglichkeiten hinsichtlich der Tageshöchstarbeitszeit eingeführt werden, was Arbeitgeber*innen einseitig mehr Spielräume für Flexibilisierungen zugesteht. Eine in SPD und Grünen lange diskutierte Abschaffung von Hartz IV wird es nicht geben. Es wird lediglich umbenannt in „Bürgergeld“, und es wird ein einjähriges Moratorium auf Sanktionen umgesetzt. Eine Erhöhung des Regelsatzes ist ebenfalls nicht vorgesehen. Stattdessen wird eine Kindergrundsicherung eingeführt (Höhe unbekannt), das Schonvermögen erhöht (Höhe unbekannt), Zuverdienstmöglichkeiten verbessert (Höhe unbekannt) und der Freibetrag von Auszubildenden erhöht (Höhe unbekannt). Natürlich braucht ein Koalitionsvertrag einen gewissen Spielraum zur Anpassung an die jeweilige tagespolitische Situation, aber es ist auffällig, wie viele sozialpolitische Beitragserhöhungen nicht spezifiziert sind. Dies ist sicherlich der Geschwindigkeit geschuldet, mit der der Vertrag zustande kam, bedeutet aber auch Konfliktpotenzial für die Koalitionspartner*innen während der Legislaturperiode.
Damit kommen wir zu einer Reihe subtiler, aber überaus wichtiger Neuerungen im Koalitionsvertrag, die direkt die materielle Basis staatlichen Handelns betreffen: Da im Bundestag die nötige Zweidrittelmehrheit zur Abschaffung der Schuldenbremse nicht gegeben ist, stellt sich die Frage, wie die Finanzierungen angesichts der vielen geplanten Aufgaben in Sachen Klimaschutz, Digitalisierung, Forschungsförderung oder Kommunenaltschuldenentlastung (vgl. KV, 163) bewerkstelligt werden kann. Hier erweist sich der Koalitionsvertrag als überaus pragmatisch: An vielen verschiedenen Stellen wird die Schuldenbremse auf kreative Weise umgangen und es werden innovative Möglichkeiten gefunden, Geld indirekt ausgeben zu können (vgl. auch den Beitrag von Völpel u.a. in diesem Heft).
Ging es bei der Einführung der Schuldenbremse implizit immer um eine „Verringerung demokratischer Spielräume“ (Petzold, 2018, 251), schaffen die neuen Umgehungsstrategien nun mehr Freiräume für staatliches Handeln. Trotzdem muss an dieser Stelle auch festgehalten werden, dass ein Großteil dieser Strategien auf die Innovationsleistungen der Privatwirtschaft setzt oder sich in staatlicher Eigentümerschaft befindlicher, aber der parlamentarischen Kontrolle enthobener Akteure bedient. Dem Einwand, dass auf diese Art und Weise dem Parlament die Budgetkontrolle entzogen wird, stellt der Koalitionsvertrag entgegen, dass bei staatlichen Gesellschaften die parlamentarische Kontrolle gestärkt werden soll – wobei allerdings offenbleibt, wie genau dies umgesetzt werden wird. Ob FDP-Finanzminister Christian Lindner unter diesen finanzpolitischen Neuerungen nun „zur Kreditaufnahme gehen“ wird wie Nixon einst nach China (vgl. Puschner 2021), bleibt jedoch fraglich. Es steht zu befürchten, dass er, je pragmatischer er in Deutschland agieren muss, umso ideologischer auf europäischer Ebene auftreten wird. Die dringend notwendigen Änderungen der europäischen Fiskalregeln, auf die Frankreich und Italien drängen, werden jedenfalls weder mit Lindner, noch mit Scholz zu bewerkstelligen sein.

Koalition des „progressiven Neoliberalismus“

Als der Koalitionsvertrag veröffentlicht wurde, war die einhellige Meinung in linken Kreisen, dass sich die FDP besonders stark durchsetzen konnte und dass die Punkte, die eine grüne oder sozialdemokratische Handschrift tragen, „nicht von der progressiven Seite“ der jeweiligen Partei geschrieben wurden.3 Diese Einschätzung ist sicherlich nicht falsch, vor allem auch wenn man bedenkt, wie sehr eher linke Spitzenpolitiker*innen aus Grünen und SPD – selbst wenn sie als gemäßigt gelten, wie bspw. Anton Hofreiter von den Grünen – bei der Ämtervergabe größtenteils übergangen wurden.4 Programmatisch wie personell lässt sich also eine deutlich größere Geschlossenheit der Ampel-Koalition erkennen, als man ausgehend vom klassischen deutschen Lagerdenken meinen könnte. Denn auch wenn der Koalitionsvertrag viel Spielraum zwischen den drei Bündnispartnern für interne Streitereien über die jeweiligen Details lässt, so lässt sich eine grundsätzliche gemeinsame ideologische Basis doch deutlich ausmachen: Ob es sich um die Lösungsansätze bzgl. der Klimapolitik, die halbherzigen Hartz IV-Justierungen, die nicht vorhandene Mobilitätswende oder die Strategien zur Umgehung der Schuldenbremse handelt, all diese vermeintlichen Fortschritte der Ampel bewegen sich weiterhin in den Paradigmen der postfordistischen marktbasierten Denkungsart – und darin sind sich konservative Sozialdemokraten, Grüne Realos und bürgerliche Liberale eben ausgesprochen nahe.
Nancy Fraser hat für eine solche Allianz den Begriff des „progressiven Neoliberalismus“ geprägt. Mit Bezug auf die USA definiert sie diesen als eine Verbindung aus den „on the one hand, mainstream liberal currents of the new social movements (feminism, antiracism, multiculturalism, environmentalism, and LGBTQ+ rights); on the other hand, the most dynamic, high-end, “symbolic,” and financial sectors of the US economy […]. What held this odd couple together was a distinctive combination of views about distribution and recognition“ (Fraser 2019, 9). Damit sollen die Fortschritte, die die Ampel z.B. queerpolitisch umsetzen wird, nicht kleingeredet werden, wie es von Seiten der neo-fordistischen Linken gerne getan wird, die „Identitätspolitiken“ gegen Verteilungsfragen auszuspielen suchen. Fraser beklagt im Gegenteil, dass die liberalen Strömungen der sozialen und Umweltbewegungen die emanzipatorischen Diskurse vereinzelt, d.h. losgelöst von der soziooökonomischen Ordnung betrachtet, anstatt sie gemeinsam mit der Verteilungsfrage zu denken.
Es wird in den nächsten Jahren die primäre Aufgabe der Linken sein, diese ganzheitliche Dimension sozialer Kämpfe in den Mittelpunkt zu rücken. Nur so kann eine wirksame linke Opposition gegen die Ampel agieren. Raum genug böte der Koalitionsvertrag, denn im Gegensatz zu den USA, wo dem progressive Neoliberalismus zumindest für die Obamajahre ein hegemonialer Status attestiert werden kann, fällt es schwer, das politische Programm der Ampel als neues hegemoniales Projekt zu klassifizieren. Dazu fehlen politische Projekte und materielle Zugeständnisse, die gesellschaftlichen Konsens stiften könnten. Dass die Ungleichheit unter der Ampel-Koalition weiter wachsen wird, ist gewiss. Zu gering sind die sozialstaatlichen und lohnpolitischen Reformen, während steuerpolitische Umverteilungswerkzeuge nicht einmal in Ansätzen im Koalitionsvertrag zu finden sind. Dass sowohl Steuer- als auch Wohlfahrtspolitik deutlich hinter den Wahlversprechen zurückgefallen sind, zeigt, wie wenig wichtig diese Themen SPD und Grünen während der Verhandlungen waren. Am Ende könnten aber genau die fehlenden Konkretisierungen in Sozial- und Klimaschutzpolitik für beide Parteien zu einem großen Problem werden.

Anmerkungen

1 Insbesondere, da Minderheitenregierungen, wie sie bspw. in Skandinavien der Normalfall wegen des komplexen Mehrparteiensystem sind, in Deutschland völlig unüblich sind. Vgl. zur Zeitspanne von Regierungsbildungen Alejandro Ecker/Thomas M. Meyer (2015): The duration of government formation processes in Europe, in: Research and Politics Okt.-Dez. 2015, S. 1-9.
2 Umweltverbände wie Greenpeace, die Bewegung Fridays For Future wie auch die eigene Jugendorganisation der Grünen kritisieren die Klimaschutzmaßnahmen der Ampel-Koalition als nicht ausreichend. Vgl.: Hackenbruch, Felix (2021): Scharfe Kritik von Grüner Jugend und Fridays For Future am Ampel-Vertrag, in: Der Tagesspiegel, 24.11.2021.Olaf Bandt vom Bund Umwelt und Naturschutz (BUND) meint dazu: „Die Ampel-Koalition hat sich auf einen umweltpolitischen Koalitionsvertrag verständigt, der gegenüber allen Vorgängerregierungen einen Fortschritt bedeutet. Teile davon möchte ich explizit loben. Ich zweifle jedoch daran, dass die getroffenen Vereinbarungen reichen, um die 1,5-Grad-Grenze einzuhalten.“, BUND (2021): Kommentar zum Koalitionsvertrag, 24.11.2021.
3 So z.B. Andrea Ypsilanti vom Institut Solidarische Moderne, vgl. Transit Talk Podcast #1: Die Ampel kommt, die Krise bleibt. Ceren Türkmen im Gespräch mit Andrea Ypsilanti und Mario Candeias, 16.12.2021.
4 Ausnahmen, wie Sven Giegold, der als Staatssekretär für Europafragen in das Ministerium für Wirtschaft und Klimaschutz geholt wurde, sind eher funktioneller Natur – kaum jemand bei den Grünen ist in Brüssel so gut vernetzt wie Giegold – und bestätigen daher eher die Regel.

 

Literatur

Koalitionsvertrag 2021 „Mehr Fortschritt wagen. Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“, https:// www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Koalitionsvertrag/Koalitionsvertrag_2021-2025.pdf, 17.01.2022.
BUND (2021): Kommentar zum Koalitionsvertrag, 24.11.2021, https://www.bund.net/service/presse/pressemitteilungen/detail/news/kommentar-zum-koalitionsvertrag-wichtige-impulse-fuer-klimapolitik-und-naturschutzwir-werden-die-regierung-an-der-umsetzung-messen/, 15.01.2022.
Ecker, Alejandro/Thomas M. Meyer (2015): The duration of government formation processes in Europe, in: Research and Politics Okt.-Dez. 2015, https://journals.sagepub.com/doi/pdf/10.1177/2053168015622796, 15.01.2022, S. 1–9.
Fraser, Nancy (2019): The Old Is Dying And The New Cannot Be Born. From progressive Neoliberalism to Trump and beyond, Verso Books, London.
Nagel, Jule (2021): Radikale Neuaufstellung statt leiser Tod., in: Neues Deutschland, 29.10.2021, https://www.ndaktuell.de/artikel/1158106.linke-debatte-radikale-neuaufstellung-statt-leiser-tod.html?s=04&fbclid=IwAR2UhmYUmgCWwTxJl7mz-lkQ9aeXNTvhj3dWO-rFielH8lTIGzOf1gjsybY, 15.01.2022.
Petzold, Tino (2018): Austerity Forever?! Die Normalisierung der Austerität in der BRD, Westfälisches Dampfboot, Münster.
Pinzler, Petra (2021): Krawatte und Krawall. Wie Robert Habeck das Wirtschadtsministerium verändern will, in: Die Zeit 52/2021, 15.12.2021, , https://www.zeit.de/2021/52/robert-habeck-wirtschaftsminister-umweltschutz-oekonomie,21.12.2022.
Puschner, Sebastian (2021): Only Lindner could go to Kreditaufnahme, Der Freitag 24.11.2021, https://www.freitag.de/autoren/sebastianpuschner/only-lindner-could-go-to-kreditaufnahme, 15.01.2022.
Transit Talk Podcast #1: Die Ampel kommt, die Krise bleibt. Ceren Türkmen im Gespräch mit Andrea Ypsilanti und Mario Candeias, 16.12.2021, https://www.solidarische-moderne.de/de/article/649.transit-talk-1-die-ampelkommt-die-krise-bleibt.html, 15.01.2022.

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