Das Elend des Linksliberalismus
Warum die US-Wahl kein Ausdruck einer gesellschaftlichen Rechtsverschiebung ist
1. Trumps Triumph und Machtfülle
Der 45. Präsident der Vereinigten Staaten ist auch der 47. Präsident. Das Kunststück, nach einer Abwahl noch einmal wiedergewählt zu werden, gelang zuletzt Grover Cleveland vor 132 Jahren. Donald Trump wird die kommenden vier Jahre regieren. Danach darf der 78-Jährige nicht noch ein weiteres Mal antreten.
Trump, der als erster Republikaner seit George W Bush 2004 den „popular vote“ also die meisten Stimmen gewonnen hat, erkennt in seiner zweiten Präsidentschaft ein starkes Mandat. In jedem Fall beginnt er seine zweite Amtszeit mit einer größeren Machtfülle als 2016 und auch als Joe Biden vier Jahre danach.
Trump hat seine Partei nach innen auf Linie gebracht. Zudem verfügt Trump über eine solide Mehrheit in Senat und Repräsentantenhaus. Das erleichtert die Durchsetzung von Trumps Agenda. Hinzu kommt die auch durch sein Wirken nach 2016 zustande gekommene starke rechte Mehrheit am Obersten Gerichtshof.
2. Das Paradox: Trumps Triumph trotz Unpopularität
Trumps Wahlsieg ist erklärungsbedürftig. Der Milliardär von Mar-a-Lago in Florida ist ein mehrfach verurteilter Straftäter und der erste Ex-Präsident, der jemals vor Gericht schuldig gesprochen wurde. Trumps Strafregister beinhaltet finanziell motivierten Be trug, sexuelle Gewalt gegen Frauen und Schweigegeldzahlungen an eine Pornodarstellerin. Zahlreiche Strafverfahren laufen noch, darunter eines wegen versuchtem Wahl betrug im Bundesstaat Georgia. Weitere Strafverfahren beziehen sich auf Trumps Rolle während des Sturms seiner Anhänger auf das Kapitol am 6.Januar 2021, als er sich weigerte, seine Wahlniederlage einzugestehen.
Im Wahlkampf wurde der notorische Lügner dabei immer wieder neuer monströser rassistischer Lügengeschichten überführt, wie etwa der, dass in Springfield, Ohio aus Haiti stammende US-Staatsbürger der weißen Bevölkerung die Haustiere stehlen und essen würden.
Auch Trumps Hinterlassenschaft ist kein Empfehlungsschreiben. Er hatte behauptet, seine Steuersenkungen für Milliardäre und Konzerne würden sich selbst finanzieren. Stattdessen verdoppelte er annähernd die Staatsverschuldung. Er verantwortete eine sozialdarwinistische Pandemiepolitik, die mehr als eine Million Menschen mit dem Leben bezahlte. Kein Wunder, dass Trump damals in Rekordgeschwindigkeit unter die kritische Marke von weniger als 40 0/o Unterstützern in der Bevölkerung fiel und mit historischen Ablehnungswerten aus dem Amt schied.
Wie ist es nun also möglich, dass er wiedergewählt wurde, obwohl laut „Ipsos“ noch im April 2024 740/o der registrierten Wähler aussagten, dass sie seine Versuche, die Wahl in seinem Sinne zu manipulieren, für „sehr ernst“ hielten?1 Wie ist es möglich, dass laut CNN-Nachwahlbefragung sogar 53 0/o der aktiven Wähler angaben, ein eher schlechtes Bild von ihm zu haben und nur 46 0/o ein eher positives? Tatsächlich hielten auch unter den aktiven Wählern 54% Trumps Meinungen für „zu extrem‘:2 Der Schlüssel zum Verständnis der US-Wahl liegt in diesem Paradox der Trump’schen Unpopularität und seines Wahlerfolgs.
3. Die liberale Erzählung: Rassismus, Sexismus und „Fake News“
Trumps Triumph ist unbequem, insofern er erneut „gefühlte Wahrheiten“ im liberalen Bürgertum untergräbt. Es sei ein Mangel an Bildung und die Durchschlagskraft von „Fake News‘: die den Wahlsieg der Vernunft verhindert habe. Es sei der Rassismus in der Gesellschaft, obwohl die USA 2008 erdrutschartig einen Schwarzen zum Präsidenten wählten und ihm sogar trotz seiner Sozialkürzungen zur Wiederwahl verhalfen. Es sei der Sexismus in der Gesellschaft, die eben immer noch nicht „ready for her“ – bereit für eine Frau im Präsidentenamt – sei, obwohl Hillary Clinton 2016 ja mehr Stimmen auf sich vereinte als Trump. Es sei die Faschisierung einer Gesellschaft, die Trump für sein Versprechen, ,,illegale Einwanderer“ in Massen zu deportieren, gewählt habe. Und natürlich sei es äußere Beeinflussung durch andere Glieder der „Achse der Autokratien“ (Anne Applebaum), durch Putins Russland und Xi Yinpings China.
Diese Erklärungen sind eine Beleidigung der Intelligenz. Denn auch diesmal lassen die statistischen Daten derlei ideologische Schlüsse nicht zu.
4. Was die Zahlen sagen
4.1 Trump und die multiethnische Arbeiterklasse
Im Zentrum der Wahl stand laut Nachwahlbefragung wieder die Wirtschaftslage. Für 320/o war sie wahlentscheidend. Außerdem war für 34% der Zustand der Demokratie entscheidend. Eine stark untergeordnete Rolle spielten die Themen Abtreibung (14%), Einwanderung (11%) und Außenpolitik (4%).
Dass die Wahl auch eine Abstimmung über die Demokratie und ihren Zustand war, kann nicht überraschen. Sie ist nicht nur im Zusammenhang mit der Wut über die Dysfunktionalität der parlamentarischen Institutionen unter dem Einfluss des großen Geldes zu sehen, sondern auch mit der Bedeutung der Frage für beide Kampagnen, die ihrem Gegner jeweils unterstellten, die Demokratie zu untergraben.
Auch die erneut entscheidende Bedeutung der Wirtschaft und materiellen Lage der Bevölkerung kann nicht verwundern. Der Hintergrund ist die historische Erosion der lohnarbeitenden Einkommensmittelklassen durch Deindustrialisierung, die Schwäche der organisierten Arbeiterbewegung und die explodierenden Gebührenfinanzierung von Ausbildungsgängen, die die Arbeiterklasse mit einem Studienschuldenberg von 1,753 Billionen US-Dollar belastet.3
Im Ergebnis leben heute in den USA 60 0/o der Bevölkerung von „paycheck to pay check‘: das heißt, sie verfügen über keinerlei Ersparnisse.
Die letzten vier Jahre der Inflation haben diese Not intensiviert. Zwar hat die fiskalisch expansive Konjunkturpolitik Bidens zu vergleichsweise solidem Wachstum geführt, im dritten Quartal 2024 um 2,8 %. Trotzdem sagen 46 % der Wähler laut Edison Researchs Nachwahlbefragung, dass ihre persönliche materielle Lage heute schlechter sei als vor vier Jahren. 2020, nach vier Jahren Trump, sagten dies nur 200/o.4
Die Nachwahlbefragungen sind im Hinblick auf das Klassenwahlverhalten unpräzise Annäherungen. Als Arbeiterklasse gilt im Regelfall, wer nicht studiert hat und sich in den unteren Einkommensklassen befindet. Auch kann der Grad der wirtschaftlichen Unzufriedenheit ein Indikator für die Klassenlage sein.
Trump rechtfertigt seine Politik immer wieder im Namen der Arbeiterklasse. 2016 versprach er – auch ohne Gewerkschaften und Klassenkonflikt – die Rückkehr zum früheren Hochlohnniveau auf dem Wege der alten neoliberalen „trickle down“-Wirtschaftslehre, der zufolge Steuersenkungen für Konzerne und Milliardäre Investitionen und gutentlohnte Beschäftigung nach sich ziehen. Sein Versprechen löste er nicht ein. Auch seine Programmatik für 2024 heißt für die Arbeiterklasse nichts Gutes.
Trotzdem hat sich die Proletarisierung der Republikaner fortgesetzt: 63 0/o der Wähler ohne Hochschulabschluss stimmten für Trump, 51 0/o aller Wähler mit etwas Hochschulerfahrung und 56 0/o mit einem „Associate’s Degree‘: 800/o derer, die laut der CNN Nachwahlbefragung die Wirtschaftslage als entscheidend ansahen, gaben dem Ex-Präsidenten ihre Stimme. Von denjenigen, die den Zustand der Wirtschaft als „nicht gut“ oder „schlecht“ beschrieben, stimmten 700/o für Trump. Von denjenigen, die sich „unzufrieden“ mit der Lage der Nation zeigten, 560/o, von den „Wütenden“ sogar 72 0/o. 81 0/o aller Wähler, die sagten, dass es ihnen 2024 auch persönlich schlechter gehe als 2020, votierten für den Republikaner. 22 0/o der Amerikaner erlebten 2024 nach eigenen An gaben „severe hardship“ in Folge der Inflation. Von ihnen stimmten 740/o für Trump. Weitere 5 3 0/o erlebten „moderate hardship‘: Von ihnen wählten 51 0/o republikanisch.
Ähnlich sieht es auch bei den Einkommen aus: Die Demokraten hatten seit der Begründung der „New Deal Coalition“ stets die unteren Einkommensklassen bis 50.000 US-Dollar/Jahr auf sich vereint. Die Wahl 2024 war nun die erste, in der diese Wählergruppe mehrheitlich für einen Republikaner stimmte: 50 0/o für Trump, nur 47 0/o für Kamala Harris. Umgekehrt wählten erstmals in der Geschichte mehr Wohlhabende als weniger Gutbetuchte die Demokraten.
4.2 Multiethnische Klassenpolitik versus Identitätspolitik
Harris‘ Niederlage ist Ausdruck strategischen Versagens und struktureller Bedingtheit zugleich. Die Partei suchte Wähler auf Grundlage von Identitätspolitik zu gewinnen. Erstens sollte die Skandalisierung von Trumps Radaurassismus die ethnischen Minderheiten dazu bringen, für Harris zu stimmen. Zweitens sollten die Warnungen vor einer Einschränkung des Abtreibungsrechts die weibliche Bevölkerung mobilisieren. Die Demokraten versuchten hierfür gerade zum Ende des Wahlkampfes, konsequent konservative weiße Frauen in den Vorstädten anzusprechen. Es sei ok, anders zu wählen als die Ehemänner.
Harris‘ Wahlkampf war damit im Wesentlichen ein Wahlkampf des „Kleineren Übels‘: Diese Strategie lenkte jedoch alle Aufmerksamkeit auf Trump. Was eine Anti-Trump Wahl werden sollte, wurde zur Anti-Demokraten-Wahl, die insgesamt mehr als acht Millionen Wählerstimmen verloren. Zur für das liberale Establishment unbequemen Wahrheit gehört: Trump gewann eben nicht nur 57% der Stimmen der Weißen. Er holte trotz seines offen rassistischen Wahlkampfes auch 65% der Stimmen der amerikanischen Ureinwohner und 46% der Stimmen der Latinos, 390/o der Asian-Americans und auch noch 13% der stets überwältigend demokratisch stimmenden Schwarzen.Ja, die größten Wählerwanderungen, die Trump den Sieg bescherten, ergaben sich aus gerechnet bei den ethnischen Minderheiten, bei der Latino-Bevölkerung (+13 Prozent punkte) und den asienstämmigen Amerikanern (+4). Bei männlichen Latinos holte Trump sogar eine satte 55%-Mehrheit (+18).
Auch scheiterten die Demokraten mit der Strategie, Frauen über die Frage des Rechts auf freiwillige Mutterschaft zu gewinnen. Denn Trump holte eben nicht nur die Stimmen von weißen Männern. Auch die Mehrheit der weißen Frauen wählte ihn (53% zu 45%. In einer Wahl aber, die von der Wirtschaftslage und der darauf fußenden populistischen Antiestablishment-Stimmung entschieden wurde, musste die identitätspolitische Ansprache scheitern, weil sie auf die Klassenfrage keine Antwort gab. Die ökonomische Wut blieb sprachlos. Mehr noch: Trump war der einzige, der die epidemische Wut auf ,,politics as usual“ als Emotion verkörperte.
4.3 Eine politische, keine gesellschaftliche Rechtsentwicklung
Die Erklärung einer gesellschaftlichen Rechtsentwicklung, ja einer Faschisierung trägt dabei auch nicht. Die Republikaner rückten die von Trump angekündigte Deportation von 12 Millionen Arbeitern ohne legalen Aufenthaltsstatus ins Zentrum ihres Parteitags und Wahlkampfes. In apokalyptischen Bildern sprach Trump in seinen Reden von 200 Millionen ,,Wilden“ und „Tieren‘: die ins Land strömen würden, sollte die „Kommunistin“ und „Marxistin“ Harris gewinnen. Die Wahl sei, so Trump im Anschluss an die rechtsextreme „Great Replacement“-Theorie, ein Endkampf gegen den „Bevölkerungsaustausch‘: Die Demokraten machten ihrerseits das Thema groß, indem sie Trump noch zu überholen trachteten: Trump würde nur reden, sie aber hätten gezeigt, dass sie die Zuwanderung in konkreten Taten viel besser eindämmen würden.
Nichtsdestotrotz spielte „Zuwanderung“ in der Wahl so gut wie keine Rolle. Nur 110/o der Wähler nannten sie als für sich wahlentscheidend. Mehr noch: Wenn Trump sein großes „blutiges“ ,,Remigrations-Projekt“ am Ende durchführt, dann tut er das gegen den ausdrücklichen Willen der Mehrheit: Laut CNN plädieren selbst 56 0/o der aktiven Wähler dafür, dass die „meisten undokumentierten Einwanderer in den USA eine Chance erhalten sollten, legalen Aufenthaltsstatus zu erlangen“. Nur 400/o sprachen sich für eine Deportation aus.
Auch sind konkrete linke Forderungen weiterhin populär. Schon lange besteht das Potenzial für einen ökonomischen Linkspopulismus, der klassenpolitisch zuspitzt. Seit Jahr und Tag zeigen Umfragen stabile Zweidrittelmehrheiten für ein öffentliches Gesundheitssystem (,,Medicare for All“), den 15 Dollar-Mindestlohn und ein gebühren freies Hochschulstudium – sprich alle Forderungen, mit denen Bernie Sanders 2016 und 2020 antrat, weshalb er auch in Umfragen immer besser gegen Trump abschnitt als sowohl Clinton als auch Biden.
Die (potenziellen) ,,progressiven Mehrheiten“ in der Gesellschaft zeigten sich selbst bei diesen Wahlen, obwohl eine dramatische Abwendung von den Demokraten durch Nicht- oder Wechselwahlverhalten stattfand: In Missouri, wo Trump mit 58,4% siegte, stimmte eine große Mehrheit von 57,6% für die Anhebung des Mindestlohns von 12,30 auf 15 US-Dollar, seine automatische Anpassung an die Inflation und für die Einführung einer garantierten Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. In Alaska, wo Republikaner mit Ausnahme einer Wahl noch nie verloren haben und Trump diesmal mit mehr als 13 Prozentpunkten vor Harris lag, wurde eine ähnliche Mindestlohnanhebung und Lohn fortzahlung mit einer Mehrheit von 57,8% angenommen. Selbst in einem der konser vativsten Staaten wie Nebraska, wo Trump Harris mit 59,6% zu 39,1% schlug, stimmten mit 74,4 % knapp drei Viertel der Wähler für die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und waren 58,7% für die Anhebung des Mindestlohns von 9 auf 15 US-Dollar und eine zukünftig automatische Inflationsanpassung. Ebenfalls in Nebraska, wo die Demokraten seit 1964 nicht mehr gewonnen und 2012 ihren letzten Senatorenposten verloren haben, siegte beinahe der unabhängige Mechaniker und Gewerkschaftsaktivist Dan Osborn mit einer antikapitalistisch-linkspopulistischen Kampagne, obwohl Amtsinhaber im Senat fast nie verlieren.
Und nicht nur verteilungspolitisch, sondern auch bei den Plebisziten zeigte sich ein stark progressives, feministisches Abstimmungsverhalten. So führten die Volksabstimmungen zur Verteidigung des Rechts auf Schwangerschaftsabbruch in fast allen Bundesstaaten – republikanischen wie demokratischen – zu Mehrheiten: 51,9% in Missouri, 57,4% in Montana, 61,1% in Arizona, 61,5% in New York, 61,9% in Colorado, 64,1%in Nevada, 74,9% in Maryland. Auch in Florida fand sich eine Mehrheit von 57,1% für reproduktive Rechte; das Plebiszit scheiterte allein aufgrund des nötigen Quorums von 60%. Nur im ultrakonservativen South Dakota, wo Demokraten nur viermal in der US-Geschichte erfolgreich waren, fand sich für eine vergleichbare Initiative keine Mehrheit, während selbst in Nebraska, wo der letzte demokratische Sieg 60 Jahre zurückliegt, immerhin 48,7% der Wähler dafür stimmten, dass Abtreibung erlaubt sein solle, bis der Fötus überlebensfähig ist.
5. Gegen das Establishment, nicht pro Trump
Kurz: So wie schon die Vorwahlen von 2016 und 2020 die Bereitschaft vieler wirtschaftlich leidender, wütender Wähler aufzeigten, im Antiestablishment-Geist zwischen Sanders und Trump zu changieren, so war auch in dieser Wahl das gleichzeitige Ab stimmungsverhalten für linke Ziele einerseits und für Trump andererseits kompatibel. Dass Trump selbst von 9 0/o der aktiven Wähler, die ein negatives Bild von ihm haben, gewählt wurde, unterstreicht, dass sein Triumph (auch) 2024 weniger Resultat seiner Überzeugungskraft als der Enttäuschung durch die Demokraten ist.
Anmerkungen
1 https://ipsos.com/en-us/two-thirds-registered-voters-say-trumps-hush-money-charges-are-serious, 3.12.2024.
2 Alle folgenden Daten aus Nachwahlbefragungen sind denen von CNN https://edition.cnn. com/election/2024/exit-polls/national-results/general/president/o, 3.12.2024.
3 https://org/student-loan-debt-statistics, 3.12.2024.
4 https://reuters.com/world/us/results-nevada-exit-poll-us-presidential-election-2024-n-05/, 3.12.2024.