Mythos: „Wir haben alle über unsere Verhältnisse gelebt“ – BEIGEWUM

Mythos: „Wir haben alle über unsere Verhältnisse gelebt“

am 2. Januar 2014 um 18:33h

Öffent­li­che Schul­den ent­ste­hen aus kol­lek­ti­vem und mora­li­schem Fehl­ver­hal­ten. Der Staat gibt für Sozi­al­leis­tun­gen zu viel Geld aus; dies kön­nen wir uns in Zukunft nicht mehr leis­ten. Schul­den – öffent­li­che, wie pri­va­te – bele­gen, dass über die eige­nen Ver­hält­nis­se gelebt wur­de. Die ein­zi­ge Lösung ist kon­se­quen­tes Spa­ren: durch Staa­ten und auch die pri­va­ten Haus­hal­te. Not­wen­di­ge Ein­schnit­te bei Aus­ga­ben müs­sen daher akzep­tiert werden.“

Mit dem Andau­ern der Kri­se fin­det auch ein stän­di­ger Kampf um Bedeu­tungs­ho­heit statt. Aus der Finanz­kri­se wur­de eine Schul­den­kri­se, und auf indi­vi­du­el­ler Ebe­ne heißt es nun: „Wir haben über unse­re Ver­hält­nis­se gelebt“. Über­setzt heißt das: Ers­tens kön­nen wir uns einen angeb­lich zu gene­rö­sen Sozi­al­staat nicht leis­ten. Zwei­tens sei­en wir alle „selbst schuld“, weil wir alle über­mä­ßig vom Sozi­al­staat pro­fi­tie­ren. Die Schluss­fol­ge­run­gen aus die­ser Ana­ly­se sind bekannt: Spa­ren, spa­ren, spa­ren. Einer­seits bei öffent­li­chen Aus­ga­ben, ande­rer­seits auch im Pri­va­ten. Wir wer­den dazu ange­hal­ten, weni­ger zu kon­su­mie­ren, aber auch Lohn­sen­kun­gen und weni­ger Sozi­al­leis­tun­gen in Kauf zu neh­men. Denn die Staats­schul­den betref­fen uns alle und müs­sen des­halb soli­da­risch von allen getra­gen wer­den – auch wenn das heißt, „den Gür­tel enger zu schnallen“.

Privates Sparen bedeutet höhere Staatsschulden

Der Spa­gat von öffent­li­chen zu pri­va­ten Schul­den wird fol­gen­der­ma­ßen argu­men­tiert: Die Schuld an Staats­schul­den und vor allem auch die Ver­ant­wor­tung zur Besei­ti­gung der Staats­schul­den trägt angeb­lich das Indi­vi­du­um. Die Staats­schul­den­last, so die Argu­men­ta­ti­on, wer­den von uns Steu­er­zah­le­rIn­nen getra­gen. Um sie abzu­tra­gen, müs­sen wir weni­ger aus­ge­ben und mehr spa­ren. Denn in der Ver­gan­gen­heit hät­ten wir über unse­re Ver­hält­nis­se gelebt. Ger­ne wird dann auch der pro-Kopf Staatschul­den­stand aus­ge­rech­net, um die irra­tio­na­le Furcht aus­zu­lö­sen, dass wir alle frü­her oder spä­ter mit unse­rem Erspar­ten für die Staats­schul­den auf­kom­men müs­sen. Das ist aller­dings nicht der Fall, einer­seits weil die Staa­ten auch Ver­mö­gen hal­ten, die gegen­zu­rech­nen sind, und ande­rer­seits weil die Bür­ge­rIn­nen kei­ne „Unter­neh­mens­an­tei­le“ am Staat hal­ten und daher nicht direkt für den eige­nen Staat haf­ten. Außer­dem kön­nen durch pri­va­tes Spa­ren öffent­li­che Schul­den nicht besei­tigt werden.

Denn wenn weni­ger kon­su­miert wird, wer­den weni­ger Steu­ern auf Kon­sum fäl­lig, außer­dem kön­nen Unter­neh­men weni­ger Pro­duk­te abset­zen und inves­tie­ren weni­ger, was wie­der­um zum Sin­ken der Beschäf­ti­gung führt. Auch letz­te­res belas­tet die Staats­fi­nan­zen durch weni­ger Ein­kom­mens­steu­er­ein­nah­men und mehr Aus­ga­ben für Arbeits­lo­sen­un­ter­stüt­zung etc. Weni­ger Kon­sum bedeu­tet also nicht weni­ger Staats­schul­den – im Gegen­teil. Als Gegen­ar­gu­ment hört man dann oft, dass aber durch mehr pri­va­tes Spa­ren die Zin­sen gesenkt wer­den (da sich das Geld­an­ge­bot erhöht und der „Preis“ des Gel­des, also der Zins­satz, sinkt) und so Inves­ti­tio­nen bil­li­ger wer­den – mit posi­ti­ven Effek­ten auf gesamt­wirt­schaft­li­che Akti­vi­tät und auch die öffent­li­chen Finan­zen. Tat­säch­lich hat die hei­mi­sche Spar­quo­te nur einen gerin­gen Ein­fluss auf den Zins­satz. Denn Unter­neh­men finan­zie­ren sich inter­na­tio­nal, und auch Ban­ken ver­lei­hen nicht nur das Geld, das Kun­dIn­nen am Spar­buch haben. Viel mehr Ein­fluss auf Zins­sät­ze als das Spar­ver­hal­ten im eige­nen Lan­de haben bei die­ser Kon­stel­la­ti­on Erwar­tungs­hal­tun­gen, Leit­zins­set­zun­gen der Zen­tral­ban­ken etc. Pri­va­tes Spa­ren bedeu­tet also nicht weni­ger Staatsschulden.

Sparefroh als moralisches Konstrukt

Kon­ser­va­ti­ve libe­ra­le Akteu­rIn­nen sehen die indi­vi­du­el­le Ebe­ne als zen­tra­len Angel­punkt, um gesell­schaft­li­che Ände­run­gen zu errei­chen. Gesell­schaft­li­che Miss­stän­de wer­den so weit wie mög­lich auf indi­vi­du­el­les Fehl­ver­hal­ten zurück­ge­führt – um mög­lichst wenig staat­li­ches Ein­grei­fen nötig zu machen. So ist es auch in der Finanz­kri­se: Anstatt feh­len­de Regu­lie­rung des Finanz­sek­tors und wach­sen­de Ungleich­ver­tei­lung als Kri­sen­ur­sa­chen und ‑aus­lö­ser zu sehen, wird ver­sucht, sowohl Ursa­che als auch Lösung auf indi­vi­du­el­ler Ebe­ne und somit in Eigen­ver­ant­wor­tung zu sehen. Zu vie­le Staats­schul­den bedeu­ten in die­ser Logik also, dass die Bür­ge­rIn­nen in der Ver­gan­gen­heit zu viel aus­ge­ge­ben haben. Und es bedeu­tet auch, dass die Lösung dar­in liegt, in Zukunft nicht „mehr aus­zu­ge­ben als man ein­nimmt“. Weder Regu­la­ti­on noch Umver­tei­lung ist nötig, wenn wir alle ein biss­chen spa­ren. Die Deu­tung von Spa­ren als mora­li­sche Not­wen­dig­keit wird somit zu einem Herr­schafts­in­stru­ment, das bestehen­de Struk­tu­ren aufrechterhält.

Ähn­lich ver­hält sich der Kampf um die Bedeu­tungs­ho­heit von Schul­den. Die kon­ser­va­ti­ve Deu­tung von Schuld als per­sön­li­che Schul­dig­keit und Fehl­ver­hal­ten zielt dar­auf ab, mora­li­schen Druck auf Schuld­ne­rIn­nen auf­zu­bau­en. Ande­re Ansät­ze heben aller­dings her­vor, dass die­se Schwarz-Weiß-Dar­stel­lung Rea­li­tä­ten aus­klam­mert. So haben bei­spiels­wei­se Pri­vat­ban­ken Hypo­the­ken wohl­wis­send eben­so an US-Ame­ri­ka­ne­rIn­nen ver­ge­ben, deren Ein­kom­men nicht aus­reich­te um die Hypo­the­ken spä­ter dann auch zurück zu zah­len. Die Kon­se­quen­zen des rea­li­sier­ten Risi­kos – also der ein­ge­tre­te­nen, ein­kal­ku­lier­ten Kata­stro­phe – hat­ten die Schuld­ne­rIn­nen (Zwangs­räu­mun­gen etc.) und die All­ge­mein­heit zu tragen.

Haben wir „über unseren Verhältnissen gelebt“?

Wenn behaup­tet wird, „wir“ hät­ten alle „über unse­ren Ver­hält­nis­sen gelebt“, dann wird sug­ge­riert, dass die brei­te Bevöl­ke­rung einen Lebens­stan­dard hat, der höher ist als sie und der Staat es sich leis­ten kön­nen. Stimmt das wirk­lich? Und wer ist „wir“? Seit 1975 ist die Lohn­quo­te, das heißt der Anteil der Löh­ne am BIP, ste­tig gesun­ken – in den meis­ten Län­dern der EU genau­so wie in Japan und den USA. In Deutsch­land kamen 1975 noch über 70% des BIP den Lohn­emp­fän­ge­rIn­nen zugu­te. 2007 waren es nur noch knapp 60%. Anders aus­ge­drückt heißt das, Gewinn- und Besitz­ein­kom­mens­be­zie­he­rIn­nen pro­fi­tier­ten ver­hält­nis­mä­ßig immer mehr vom Wirt­schafts­wachs­tum, da sie einen immer grö­ße­ren Anteil der erwirt­schaf­te­ten Leis­tun­gen erhiel­ten. Das ist auch einer der Grün­de für die immer grö­ßer wer­den­de Ungleich­ver­tei­lung zwi­schen den Haus­hal­ten, da die Gewinn- und Besitz­ein­kom­men wesent­lich kon­zen­trier­ter sind als die Lohn­ein­kom­men. Der Gini­ko­ef­fi­zi­ent ist in fast allen OECD-Staa­ten seit 1985 ange­stie­gen. Das heißt, auch der Unter­schied zwi­schen den Bezie­he­rIn­nen nied­ri­ger und hoher Ein­kom­men klafft immer wei­ter aus­ein­an­der. Anders gesagt: Die Mehr­heit der Men­schen hat sogar unter „ihren“ Ver­hält­nis­sen gelebt.

Die Gefah­ren von zu viel pri­va­tem Spa­ren, öffent­li­chem Spa­ren und Umver­tei­lung nach oben sind sich in einem Aspekt sehr ähn­lich: Sie schwä­chen Kauf­kraft, füh­ren zu einem Ein­bruch der Nach­fra­ge und haben nega­ti­ve gesamt­wirt­schaft­li­che Effek­te. Umver­tei­lung nach oben, wie sie in den letz­ten Jahr­zehn­ten mas­siv gesche­hen ist – egal ob es um die Ein­kom­mens­ver­tei­lung oder die Ver­mö­gens­ver­tei­lung – hat fol­gen­de Effek­te: Ers­tens haben Haus­hal­te mit höhe­rem ver­füg­ba­ren Ein­kom­men eine nied­ri­ge­re Kon­sum­nei­gung. Denn wer über weni­ger Ein­kom­men ver­fügt, muss einen höhe­ren Anteil davon für über­le­bens­wich­ti­ge Kon­sum­gü­ter (Nah­rung, Woh­nung) aus­ge­ben und kann dadurch weni­ger spa­ren. Mehr Ein­kom­men führt so zu einem stär­ke­ren Anstieg des Spa­rens als des Kon­sums, weil die genann­ten Kon­sum­aus­ga­ben schon abge­deckt sind. Des­halb führt Umver­tei­lung von unten nach oben zu weni­ger Nach­fra­ge. Zwei­tens sind vor allem die wach­sen­den Ver­mö­gens­be­stän­de von Haus­hal­ten mit hohem Ein­kom­men oder Ver­mö­gen ein Mit­grund für das Wach­sen des Finanz­sek­tors in den ver­gan­ge­nen Jahrzehnten.

Fazit

Zu wenig pri­va­tes Spa­ren ist weder Ursa­che noch Aus­lö­ser der aktu­el­len Kri­se gewe­sen. Regu­la­ti­ve Schwä­chen und wach­sen­de Ungleich­ver­tei­lung inner­halb und zwi­schen den Staa­ten sind sys­te­mi­sche Pro­ble­me, an deren Lösung gear­bei­tet wer­den muss. Ver­su­che, die Kri­sen­kos­ten durch Ein­spa­run­gen im Sozi­al­staat zu zah­len sind zum Schei­tern ver­ur­teilt, da sie ursäch­li­che Pro­ble­me nicht lösen, son­dern im Gegen­teil ver­grö­ßern. Genau­so wenig wird angeb­li­ches „mora­li­sches“ Spar­ver­hal­ten von Indi­vi­du­en den Aus­weg aus der Kri­se brin­gen. Nur sehr weni­ge haben etwas davon, wenn wir alle „den Gür­tel enger schnal­len“. Der Groß­teil der Bevöl­ke­rung wird jedoch ledig­lich wei­ter – bild­lich gespro­chen – „aus­ge­hun­gert“.


Beim vor­lie­gen­den Bei­trag han­delt es sich um die gekürz­te Ver­sion eines Kapi­tels aus dem Buch „Mythen des Spa­rens. Anti­zy­kli­sche Alter­na­ti­ven zur Schul­den­bremse“. Die­ses wur­de 2013 vom BEIGEWUM her­aus­ge­ge­ben und wen­det sich an alle, die der Behaup­tung „Spa­ren sei das Gebot der Stun­de“ fun­dierte Argu­mente ent­ge­gen­set­zen wol­len. Es wer­den zen­trale Mythen aus den Berei­chen „Schul­den“, „Spa­ren“ und der damit ver­bun­de­nen EU-​​Po­li­tik kri­tisch hin­ter­fragt und die dahin­ter­ste­hen­den Zusam­men­hänge erklärt. Das Buch ist im VSA-​​Ver­lag erschie­nen und kann hier bestellt wer­den: http://www.vsa-verlag.de/nc/detail/artikel/mythen-des-sparen/

3 Kommentare:

  1. Freiwirtschaftler am 2.Januar 2014 um 19:54h

    Gott-gewollt”

    Wäh­rend also heu­te die so genann­te “Über­pro­duk­ti­on” (die kein Über­fluss ist) von Arbeits­lo­sig­keit und nied­ri­gen Löh­nen, von Not und Ent­beh­rung beglei­tet ist, beruht die ech­te, die natür­li­che Über­pro­duk­ti­on auf einem wirk­li­chen Über­fluss an Erspar­nis­sen und ver­ur­sacht daher Erho­lung, Luxus und Lebens­ge­nuss für alle, die es durch Fleiß und Spar­sam­keit ver­dient haben.
    Man sagt, dass gan­ze Erd­tei­le, die heu­te von Mil­lio­nen Men­schen bewohnt sind, in prä­his­to­ri­schen Zei­ten unter Was­ser gestan­den hät­ten. Auch der Kapi­tal­zins setzt gro­ße Gebie­te der Volks­wirt­schaft gleich­sam unter Was­ser. Ihre Nutz­bar­ma­chung und Bear­bei­tung wird durch 4 bis 5 Pro­zent Zins eben­so unmög­lich gemacht, als wenn ein Land­ge­biet von einem 4 bis 5 Meter hohen Was­ser­stand bedeckt ist.
    Was muss z. B. heu­te alles unter­blei­ben, weil es sich nicht “ren­tiert” und was könn­te mor­gen alles in Angriff genom­men wer­den, wenn es sich nicht zu ren­tie­ren, son­dern nur die Kos­ten, nur die Löh­ne zu decken brauch­te! Durch die Frei­geld-Reform wird, wie am Schöp­fungs­ta­ge, “Land” und “Was­ser” von­ein­an­der geschie­den, und wirt­schaft­li­ches Neu­land hebt sich aus den sin­ken­den Flu­ten des Kapi­tal­zin­ses, groß genug, um alle “Über­flüs­si­gen” und “Viel­zu­vie­len” auf­zu­neh­men und zukünf­ti­gen Genera­tio­nen Arbeit, Exis­tenz und Wohl­stand zu gewähren.”

    Georg Blu­men­thal (aus “Die Befrei­ung von der Geld- und Zins­herr­schaft”, 1916)

    In der ori­gi­na­len Hei­li­gen Schrift (die Bibel nur bis Genesis_11,9) heißt der Kapi­tal­zins “Frucht vom Baum der Erkennt­nis”. In der Vor­stel­lungs­welt der Dum­men ist das Para­dies (die freie Markt­wirt­schaft) jedoch ein “Obst­gar­ten”, in dem ver­bo­te­ne Früch­te auf “Apfel­bäum­chen” wach­sen und nicht durch die Mehr­ar­beit ande­rer. Dar­um sind all­ge­mei­ner Wohl­stand und der Welt­frie­den für die Dum­men unvor­stell­bar; und die “Viel­zu­vie­len” müs­sen dann wohl “Gott-gewollt” sein: 

    http://opium-des-volkes.blogspot.de/2013/11/macht-oder-konkurrenz.html

  2. admin am 5.Januar 2014 um 17:35h

    Auch wenn nicht ganz klar ist, wie Ihr Kom­men­tar zum Blog-Arti­kel passt, hier ein Kom­men­tar zu Zins­kri­tik: http://www.beigewum.at/2012/01/hormanns-zinskritik/

  3. Mario_Sedlak am 14.Januar 2014 um 08:57h

    Wer hat behaup­tet, dass pri­va­tes Spa­ren die Staats­schul­den senkt? Links wären in Blog­bei­trä­gen hilfreich.

    Was ist an dem Gedan­ken­gang falsch oder schwer zu ver­ste­hen: Wer dau­er­haft mehr aus­gibt, als er ein­nimmt, lebt über sei­ne Ver­hält­nis­se. Der Staat muss nicht spa­ren son­dern das über­schüs­si­ge Ver­mö­gen, das im Geld­kreis­lauf fehlt, abschöp­fen anstatt es sich aus­zu­bor­gen. Eine Erb­schafts­steu­er eig­net sich dazu ide­al. Wir haben einen welt­wei­ten Über­schuss an Anlagekapital.

    In einer Demo­kra­tie kann jeder Wäh­ler mit­be­stim­men, und wer mit­be­stim­men kann, hat auch Verantwortung.


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