2012 Juni – BEIGEWUM

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It’s the ideology, stupid oder warum mehr Europa weniger für die Menschen bedeuten könnte! Zu den aktuellen Diskussionen über die länderspezifischen Empfehlungen und die Fiskalunion

20. Juni 2012 – 10:47 Uhr

Die euro­päi­sche Uni­on ist in der Kri­se, was beson­ders deut­lich sicht­bar wird durch die Gleich­zei­tig­keit von mehr Inte­gra­ti­on, etwa in Rich­tung Fis­kal­uni­on, und Des­in­te­gra­ti­on, etwa das Zurück­grei­fen auf bila­te­ra­le, völ­ker­recht­li­che Ver­trä­ge. Die Ursa­chen sind län­ger­fris­ti­ger Natur: Die EU ist nie bei den Men­schen ange­kom­men, sie ist ein Pro­jekt der euro­päi­schen Eli­ten geblie­ben, das die­se jenen nie zu ver­mit­teln such­ten („die ver­ste­hen das ja gar nicht …“). Hin­zu kommt ein ideo­lo­gi­scher Grund: Die markt­li­be­ra­le, ja – radi­ka­le Aus­rich­tung des Inte­gra­ti­ons­pro­jek­tes, sicht­bar gewor­den in beson­de­rem Maße am Bin­nen­markt­pro­jekt und der Wäh­rungs­uni­on, gene­riert vor allem Vor­tei­le für die Unter­neh­men, die in gewis­sem Aus­maß als zusätz­li­che Beschäf­ti­gung auch bei den Arbeit­neh­me­rIn­nen ankom­men. Aber es wer­den häu­fig pre­kä­re Beschäf­ti­gungs­for­men geschaf­fen, der Arbeits­druck stieg ins­ge­samt enorm an, sodass der Nut­zen für den Ein­zel­nen ent­we­der nicht sicht­bar wur­de oder über­haupt aus­blieb. Dar­über hin­aus ver­hin­der­te die­se staats­feind­li­che Ideo­lo­gie ein sinn­vol­les Aus­maß an Regu­lie­rung des Han­dels mit Deri­va­ten und des Trei­bens der Invest­ment­ban­ker und Hedge­fonds­ma­na­ger. Das sind aber die wah­ren Ursa­chen der gegen­wär­ti­gen Kri­se der EU, die dazu füh­ren, dass kon­ser­va­ti­ve Regie­rungs­chefin­nen Ent­schei­dun­gen auf EU-Ebe­ne, wie Kon­junk­tur­pro­gram­men und de-fac­to Haf­tun­gen für die Schul­den ande­rer Län­der zustim­men, die dia­me­tral gegen ihre ideo­lo­gi­schen Aus­rich­tung sind. Daher die­se Gleich­zei­tig­keit von Inte­gra­ti­on und Des­in­te­gra­ti­on. Daher die Unmög­lich­keit, den Men­schen zu erklä­ren, was ihnen die EU denn für kon­kre­te Vor­tei­le brin­ge – der Ver­weis auf die Abwe­sen­heit von Krieg hat sei­ne Strahl­kraft längst aufgebraucht.
Ein Mehr an Euro­pa kann im Kern ja nur bedeu­ten, neben dem Euro­päi­schen Par­la­ment die EU-Kom­mis­si­on zu stär­ken. Mit dem Vor­pre­schen von Frank­reich und Deutsch­land in den letz­ten Jah­ren ist jedoch de fac­to das Gegen­teil pas­siert. Herr Bar­ro­so spielt äußerst unfrei­wil­lig den Sta­tis­ten. Die EU-Kom­mis­si­on zu stär­ken wür­de aber auch hei­ßen, ihren Appa­rat zu stär­ken. Wer, im Gegen­satz zu einem nicht unbe­kann­ten öster­rei­chi­scher Lite­ra­ten, mehr als nur ein paar Mona­te mit Kom­mis­si­ons­be­am­ten zu tun hat­te, dem wird Angst und Ban­ge bei dem Gedan­ken, ihnen mehr Macht und Ein­fluss zu über­ant­wor­ten. Arro­ganz, Igno­ranz, Oppor­tu­nis­mus und, ja, man muss es lei­der so deut­lich sagen, ideo­lo­gi­sche Ver­bohrt­heit sind nicht sel­ten ein Mar­ken­zei­chen die­ses Schla­ges von Beam­ten. Hin­zu kommt die domi­nan­te Stel­lung der Gene­ral­di­rek­ti­on für Wirt­schaft und Finan­zen und von Finanz­mi­nis­te­ri­en ganz all­ge­mein in allen wirt­schafts­po­li­ti­schen Dis­kus­sio­nen der EU, die sie stän­dig auf Bud­get­dis­zi­plin und Struk­tur­re­for­men redu­zie­ren wol­len. Häu­fig denkt man sich dabei: Säckel­wart, wärst du doch bei dei­nem Leis­ten geblie­ben! Ein aktu­el­les Bei­spiel, das die Malai­se beson­ders deut­lich zum Aus­druck bringt, sind die Dis­kus­sio­nen zu den län­der­spe­zi­fi­schen Emp­feh­lun­gen, laut Arti­kel 121 und 148 AEUV, immer­hin nicht das unwe­sent­lichs­te Ver­fah­ren! Die EU-Kom¬mission leg­te am 30. Mai 2012 einen Vor­schlag vor (nach­zu­le­sen unter http://ec.europa.eu/europe 2020/making-it-happen/country-specific-recommendations/index_en.htm), von dem sie beharr­lich aus­geht, dass er nicht von den Mit­glied­staa­ten abge­än­dert wer­den dür­fe, obwohl die­se Emp­feh­lun­gen letzt­lich der Rat beschließt. Eine Viel­zahl die­ser Emp­feh­lun­gen greift im Detail in natio­na­le Rege­lun­gen ein. Dies jedoch nicht sel­ten ohne ent­spre­chen­de empi­ri­sche Grund­la­ge. Bei­spiels­wei­se wird Luxem­burg (und Bel­gi­en, Mal­ta und Zypern) drin­gend emp­foh­len, das Sys­tem der Lohn­in­de­xie­rung abzu­schaf­fen, bei dem die Löh­ne mit­tel­fris­tig etwa im Aus­maß der Infla­ti­on stei­gen sol­len (um Real­lohn­ver­lus­te zu ver­hin­dern). Das ist eine Debat­te aus den 1980er Jah­ren, als es noch mili­tan­te Gewerk­schaf­ten gab und Infla­ti­on ein Pro­blem war. Ist Infla­ti­on heu­te ein Pro­blem (in die­sen Län­dern)? Jeder der die Daten kennt, wird die Fra­ge natür­lich mit Nein beant­wor­ten. Aber die Fak­ten­la­ge lässt die Beam­ten der Kom­mis­si­on und die Ver­tre­ter der EZB unbe­ein­druckt. Ein ande­res Bei­spiel aus dem Vor­schlag der EU-Kom­mis­si­on zu den Emp­feh­lun­gen rich­tet sich an Spa­ni­en, dem nach­drück­lich emp­foh­len wird: „Acce­le­ra­te the incre­a­se in the sta­tu­to­ry reti­re­ment age” – dies trifft wahr­lich den Kern der Pro­ble­me, die Spa­ni­en im Moment hat! Bei Öster­reich wie­der­um wird unnach­gie­big ver­langt, die Anhe­bung des gesetz­li­chen(!) Pen­si­ons­al­ters im Aus­maß des Anstie­ges der Lebens­er­war­tung vor­zu­neh­men. Der Ein­wand, dass Öster­reich zuerst ver­sucht, den gro­ßen Abstand zwi­schen fak­ti­schem und gesetz­li­chem Antritts­al­ter bei den Män­nern zu redu­zie­ren, wird geflis­sent­lich igno­riert. Aber wirk­lich empö­rend ist die Vor­gangs­wei­se: Bei einer gemein­sa­men Sit­zung des Wirt­schafts­po­lit­schen und Beschäf­ti­gungs­po­li­ti­schen Aus­schuss am 7. Juni wur­den bei den Abstim­mun­gen zwei­mal ein­fach zu wenig Stim­men gezählt (16 anstel­le von 18), wodurch ver­hin­dert wur­de, dass die Ände­rungs­wün­sche des Mit­glied­staa­tes ange­nom­men wor­den wären. Der schwer­wie­gen­de Vor­wurf der Mani­pu­la­ti­on einer Abstim­mung muss an den Vor­sit­zen­den vom Wirt­schafts­po­li­ti­schen Aus­schuss gerich­tet wer­den (Zeu­gen des wirk­lich empö­ren­den Vor­gan­ges sind alle Mit­glie­der der bei­den Aus­schüs­se, die im Inter­net zu fin­den sind). Und dass es Absicht und kein Miss­ge­schick war, dafür spricht die extrem ein­sei­ti­ge Vor­sitz­füh­rung gegen die Mit­glied­staa­ten: es wur­de zu Beginn nicht geklärt, nach wel­chem Ver­fah­ren abge­stimmt wer­den wür­de; die schwei­gen­den Mehr wur­de immer als Votum gegen die Mit­glied­staa­ten inter­pre­tiert, weil nur die Ja-Stim­men abge­fragt wur­den, etc. Die gesam­te Sit­zung war eigent­lich ein Skan­dal, ein Tief­punkt der beson­de­ren Art, jeden­falls kein gutes Zei­chen für Kom­men­des – wenn es etwa dar­um gehen soll, der Kom­mis­si­on im Rah­men eines zukünf­ti­gen Fis­kal­pak­tes mehr Kom­pe­ten­zen zu übertragen.
Wir sind dabei, beim Auf­bau eines inte­grier­ten Euro­pas die Men­schen end­gül­tig zu ver­lie­ren. Weil die markt­ra­di­ka­len Ideo­lo­gen am Werk sind. Weil Min­dest­stan­dards an demo­kra­ti­schen Ver­fah­ren nicht ein­ge­hal­ten wer­den. Weil die Tech­no­kra­ten und Öko­no­men in Brüs­sel und andern Ortes hin­ter vor­ge­hal­te­ner Hand ohne­hin der Mei­nung sind, dass es ein Ende haben müss­te mit den inef­fi­zi­en­ten demo­kra­ti­schen Ver­fah­ren der natio­na­len Par­la­men­te und Par­tei­en. Alles Zei­chen an der Wand, die nichts Gutes ver­hei­ßen für die Zukunft die­ser Euro­päi­schen Uni­on, ja eigent­lich auf ihren Ver­fall hinweisen.

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